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Margarete Susman: Vom ganzen Menschen

Margarete Susman: Vom ganzen Menschen, 1918

in Die Friedens-Warte, Vol. 20, No. 7/8 (Juli/August 1918), p.211 - 212

Wieder und wieder bedrängte uns die Frage nach dem zunächst ganz unbegreiflichen und uns in unserer politischen Gesamtanschauung lange Zeit beirrenden Phänomen, daß ein zur überwiegenden Anzahl aus braven, anständigen, sittlich einwandfreien Menschen bestehendes Land imstande ist, durch Jahre hindurch und keineswegs durchweg zwangsweise ein moralisch verwerfliches System mit seiner Arbeit zu stützen und so zu dem seinen zu machen. Sind es nicht die Menschen, die wir kannten, denen wir die Hand drückten, mit denen wir an einem Tisch saßen, deren treuer Anhänglichkeit und persönlicher Rechtlichkeit wir so unbedingt sicher waren, die nun gemeinsam und jeder für sich all ihre Kraft eingesetzt haben für eine Sache, deren sittliche Niedrigkeit uns offenbar geworden ist?

Aber wenn wir einmal mit von unseren Neigungen ungeblendetem Auge die Verwerflichkeit dieser Sache durchschaut haben, so hält es nicht mehr schwer, auch den Kreuzungspunkt all der Irrwege und Verschuldungen zu finden, die gradlinig auf den Abgrund unserer Zeit zuführten. Er liegt darin, daß wir uns aus uns selbst, aus dem lebendigen Mittelpunkt unseres Denkens und Handelns entfernten. Unser erstes und letztes Problem sind immer wir selbst, und das dunkle Wort über dem Tempeltor des delphischen Gottes ist auch für uns noch Anfang und Ende aller Weisheit. Niemand kann Wahrheit anders erkennen als Selbsterkenntnis. Nicht das einmalige psychologische Ich gilt es zu erkennen, sondern das Ich schlechthin: die geheimnisvolle Drehung des Lebens gegen sich selbst, das sich selbst Anschauen, seiner selbst Innewerden und zur Entscheidung über sich selbst Emporsteigen des Lebens in vielen einander verbergenen Zentren, den kurz aufflammenden Unendichkeitsfunken, der seinem Wesen nach nur am Unendlichen und Ganzen sei Leben hat, und sein Verstoßensein in eine fremde dunkle Todeswelt - diese Lebensform, diesen Lebenswillen, dies Schicksal, aus dem all unsere Sehnsüchte, Aufgaben und Ziele entspringen. Wer nicht von diesem Problem: der menschlichen Seele, ihrer Wahrheit und Ganzheit, ausgeht, und wieder auf den Weg zu ihr als dem ewig übergeordneten, alle unsere Kräfte aufrufenden Ziel zurückstrebt, der wird auch im Politischen nie zu einer klaren Erkenntnis gelangen. Denn Politik ist nichts anderes als dass Suchen nach den wahren Zielen der menschlichen Gemeinschaft, tausendfach gehemmt und durchkreuzt von den Irrtümern und Verfehlungen an diesen Zielen. Aber sie würde zum sinnlosen Chaos entarten, sobald nur Tages- und Parteimeinungen, enger und weiter egoistische Interessen ihr die Richtung vorschrieben, sobald nicht immer wieder hinter seinen furchtbarsten Verstümmelungen der eine aufrufende Gedanke wahrhaften Menschentums sichtbar würde. Und ohne das geringste Körnlein Salz kann man sagen: Hätte unsere Menschheit mehr der Erkenntnis des Menschlichen, der Anschauung der lebendigen Seele gelebt, so hätte ihre Politik nicht so schlecht werden können, so wäre dies äußerste und hoffnungsloseste Auseinanderfallen ihr erspart geblieben. Hätte der Mensch ein klareres bild seiner selbst besessen, er wäre vor dieser entsetzlichen Selbstverstümmelung zurückgeschaudert.

Wie sehr aber dies Bild als Ausgangspunkt und Ziel der vorkriegerischen Menschheit verloren war, dafür ist jene ungeheuerliche Erscheinung der Vertretung der schlechten Sache durch rechtliche Menschen nur eines der vielen Zeichen. Sie stammt letzten Endes aus der für das heutige Europäertum charakteristischen Verwechslung und Vermengung eines lediglich theoretischen mit dem moralischen Arbeitsgebiet oder des bloßen Ameisenfleißes mit der tätigen Beziehung zum Ganzen des Lebens. Daß das Theoretische grundsätzlich noch jenseits der moralischen Bewertung liegt, ist zwar sicher seinem ursprünglichen Gefühl nach jedem Menschen klar; aber unter dem Zwang der heutigen Arbeitsteilung, wo so vieles Gleichgültige, an sich Wertfreie einen ganzen Menschen fordert, hat man sich gewöhnt, aus der Not eine Tugend machend in der bloßen tüchtigen Ausübung geistiger Fähigkeiten, in der bloßen „Leitung” an sich sich schon etwas sittliches zu sehen. Damit wird freilich alles moralisch: die Arbeit für einen gewissenlosen Unternehmer, für die Rüstungsindustrie, für die Fabrikation der Giftgase. Und es entsteht aus solcher Verwechslung die ungeheure Gefahr für die ganze Zeit, daß, wo die Arbeit als Arbeit schon als sittlich angesehen wird, keine Verpflichtung mehr empfunden wird, das Wofür auf seine sittliche Legitimation zu prüfen. In dieser moralisch einschläfernden Arbeitsatmosphäre mußten sich die Augen mehr und mehr für die einfache Wahrheit schließen: daß allein die Frage, wie ich mich mit der Ganzheit meines Lebens, mit meiner Überzeugung zu dem stelle, für das ich lebe und wirke, meine Tätigkeit ins Gebiet des Sittlichen rückt. Hier ist sofort ein tiefer, gewaltsam stauender und das Leben nach anderer Richtung drängender Einschnitt sichtbar; mit einem Schlage ist alles dem Gebiet des unpersönlichen, wertfreien Fortlaufens entrissen; die seelenlose Kette der Funktionen ist abgerissen und das schlagende Herz des Menschen in das Innere der Tätigkeit eingesetzt. Nun heißt die Frage nicht mehr ängstlich und beflissen: Diene ich gut? sondern sie heißt frei und fordernd: Wie sieht die Sache aus, der ich diene? darf ich sie durch meinen Dienst fördern? und erst diese Frage entzündet die leblos gewordenen Fragmente des Überkommenen zum lebendigen Problem. Wenn wir in dieser Richtung, als ganze Menschen mit lebendiger Seele, nicht als Teilexistenzen unser persönliches und politisches Leben (was so gesehen, dasselbe ist) erkannt und gestaltet hätten, wir hätten niemals in solchem Maße von den Geschehnissen überwältigt werden, niemals in diesen Abgrund von Schuld und Elend versinken können.

Und nun, was soll geschehen um zu helfen, wieder aufzurichten, zu befreien? Ich sehe nur ein Mittel: Schulen zu gründen und Lehrer dazu zu suchen und zu bilden, die nicht mehr nur Theoretisches, d. h. Einzelfächer, lehren, wodurch wieder der Fleiß als einzige Tugend hochgezüchtet wird, und daneben als Religion oder Sittenlehre verwerflichsten nationalen Fanatismus, durch den schon in die Herzen unserer Jugend als einziges Ideal das des in Stücke gerissenen Menschen gepflanzt wird — sondern ein Fach in den Unterricht einzuführen, das von früher Kindheit auf die Hauptstelle einnehme: Weltanschauung - oder man nenne es auch Politik: Anschauung von der Welt, die wir sind und bilden, Lehre vom Menschen, von seinen gemeinsamen Hoffnungen, Aufgabe und Zielen, damit endlich über den Köpfen unserer Jugend der einzige wahre Leitstern unseres Lebens aufgehe: die eine und ganze unsterbliche menschliche Seele.