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Rudolf Hermeier: Hans Ehrenberg und der Osten

Judentum und Christentum wurden zu dem großen Lebensthema Hans Ehrenbergs, zentriert in dem Bekenntniskampf, der für ihn schon in den zwanziger Jahren begann. Damit wurden andere Themen, die er vorher frei und wachen Sinnes gewählt hatte, verdeckt. Eins von diesen Themen ist der “Osten« - für ihn speziell auch ein Unterthema seiner Lebensentscheidung “Christentum”.

Hans Ehrenbergs Beitrag zum “Osten” wird heute kaum beachtet. Dies ist im westlichen Teil-Deutschland nahezu unverständlich, denn wir leben ja buchstäblich im Schatten der Weltmacht Sowjet-Union, den diese vom Harz aus wirft, und sind in vielfältiger Weise ihren Einflüssen (Friedenspropaganda, Raketen..) ausgesetzt. Doch mit der Wahrnehmung von Wirklichkeit haben wir im Westen ja unsere besonderen Schwierigkeiten - allzu oft bestimmen bei unseren geistigen Wortführern allein ihre “Vorstellungen von den Dingen” (Epiktet) ihre Äußerungen. Es ist deshalb auch kein Wunder, daß ein Denker, dem es nicht zuletzt um ein der komplexen Wirklichkeit angemessenes Sprechen ging, heute übergangen wird.

Bei Hans Ehrenbergs Ost-Erkundigungen lassen sich vor allem drei Imperative ausmachen:

Mit den folgenden Zeilen wird nicht die Absicht verbunden, einen umfassenden Überblick über die Ost-Schriften Ehrenbergs zu geben. Ich habe einige Themen herausgegriffen, die mir zentral erschienen. Nicht gescheut habe ich den Ver-Nuch, auch Stimmen unserer Tage aus dem Osten zu Wort kommen zu lassen. Mein Beitrag soll zur Lektüre der Ehrenberg-Schriften anregen, sie aber nicht ersetzen. Um diese zu erleichtern, verweise ich auf den hier wiedergegebenen Beitrag “West- und Ostökumene” (S. 45 ff.).

Welche Stimmen aus dem Osten sah Hans Ehrenberg als hörenswert an? Die der Ostkirche, der frühen Slawophilen, der großen Dichter und Denker. Allgemein lassen sie sich als Stimmen des Lobpreises Gottes, der tiefen Menschlichkeit, der Liebe und des Leidens bestimmen. Zu ihnen zählt m.E. auch die des Ukrainers Wasyl Stus, die am 04.09.1985 im Archipel GULag verstummte. Stus starb für jedes Mündigen Anliegen: Rechte des Menschen, freie Rede der Wahrheit. Freunde hatten seinen Tod vorausgesagt, als sie von den völlig unzulänglichen Haftbedingungen des schwer Magenkranken erfuhren. Er selbst hat um ihn gewußt:

Angesichts/ des nahen Todes/
vergeb ich euch,/
ihr meine/ bösen Henker./
Da meine Zeit/ gekommen ist,/
ihr Mörder,/ ihr Unersättlichen,/
Unmenschen/ der Urzeit./

Wir sind/ verspätete Aoidoi./
Unser Verbrechen/ ist der Gesang./

Dicht aneinandergereiht/ versperren/
Stammessärge/ den Weg./
Tobe und rase/ mein Haß/ im Gewölbe,/
wo sich der Raub/ vollzog./

Geliebtes Land/ - und Tisch -/ vergib/
den eiternden Zorn,/ der im Herzen brennt./
Die Seele/steht in Flammen.

(Ich habe den Text interpunktiert und in Verse gegliedert. Im Druck steht - hier zu Beginn des dritten Verses - “versperrt/ der Stammessarg*. Da sich aber m.E. “dicht aneinandergereiht” nur auf “Stammessarg” beziehen kann, müßte der Plural folgen.
“Angst - ich bin dich losgeworden. Ukrainische Gedichte aus der Verbannung’ Hamburg 1983, 87 f.)

Stus, der sich selbst für einen “verspäteten Aoidoi” (= Sänger, Dichter, Beschwörer) hielt, verstand sich keineswegs als ein “Politiker” (wie das so viele westliche Schriftsteller tun, die Analphabeten bezüglich des ABCs der Politik sind). So sagte er zu einem befreundeten Mitgefangenen: “Die gesellschaftliche Betätigung und die Politik liegen mir nicht. Aber was sollst Du machen, wenn in Deiner Umgebung ehrliche Menschen vernichtet werden?” (Michael Hej-fetz: Sorokas Rosenstrauch. Hamburg 1984, 44) Die Gedichte von Stus können nicht als politische eingestuft werden. Sie haben ein sehr viel universaleres Thema: den Menschen.

A Die singende Kirche

In dem 1919 geschriebenen und 1920 im Patmos- Verlag, Würzburg, veröffentlichten Werk “Die Heimkehr des Ketzers” - Rosenstock wertet es als das “beste” von Ehrenberg - findet sich eine ausführliche Darstellung der Ostkir-che, die sicherlich nicht das Ergebnis einer kurzfristigen Beschäftigung mit der Orthodoxie ist, sondern als Frucht längerfristiger Beachtung angesehen werden muß. Die Ostkirche ist eingebettet in einer pluralen Lehre von der KIRCHE, die vielleicht kurz so umrissen werden kann: Die KIRCHE ist Stiftung Christi, sein Leib. Die Christen konnten aber in den Widersprüchen und vielfältigen Ausgestaltungen sozialen Lebens den Singular nicht verkörpern. Statt zu der EINEN universalen Institution kam es zu Spaltungen, zu getrennten Teilinstitutionen. Zwei große Spaltungen kennt die Kirchengeschichte: die zwischen Rom und Byzanz (1054) und die zwischen Rom und Wittenberg (1517). Entsprechend spricht Hans Ehrenberg von der Kirche des Ostens, des Westens und des Nordens. Als viertes Glied zeichnet er in Umrissen die unsichtbare Kirche des Südens, die der „Ketzer”.

Die vier Kirchen erschöpfen das christliche Leben nicht vollständig. Ehrenberg nennt drei Existenzweisen, die - historisch gesehen - nacheinander auftreten, doch auf dem weiteren Weg immer aktuell bleiben:

  1. Die Apostel als die unmittelbaren Sendboten Christi.
  2. Die Kirchenglieder der drei sichtbaren Kirchen, in denen Teilanliegen Christi repräsentiert werden: Dogma (Byzanz), Kirche (Rom) und Reich (Wittenberg).
  3. Jene Personen, die in der Liebe Christi sind und für die deshalb das Gewand einer Einzelkirche zu eng ist. Diese Johannes-Menschen (Joh.21, 19-22) sind die “Ketzer”. Die drei historischen Kirchen haben den Gesandten zur Voraussetzung, sonderten aber den Ketzer - den Amtslosen - aus. Seine “Heimkehr”, d.h. seine Anerkennung wird notwendig im ökumenischen Zeitalter.

Auf die drei sichtbaren Kirchen wendet Ehrenberg das Jesus-Wort von Joh. 14,6 in. Danach bezeichnet er die Ostkirche als die Kirche des Weges, die Westkirche als die der Wahrheit und die Nordkirche als die des Lebens. Er ordnet ihnen auch bestimmte Gestalten zu: Märtyrer (Ost), Priester (West) und Laie (Nord). Diese Zuordnung betrifft wohl sehr viel besser den Kern der einzelnen Kirchen als eine auffälligere: Mönch (Ost), Papst (West) und Theologe (Nord).

In seinem hier veröffentlichten Beitrag faßt Ehrenberg West- und Nordkirche als “Westökumene” zusammen, was seinem späteren Thema nach gerechtfertigt ist, doch ist er dann immer wieder gezwungen, zwischen Rom und Wittenberg zu differenzieren.

Die Ostkirche spricht Ehrenberg als Erbin der Alten Kirche, der Seelenkirche in. Folglich sei sie als erste Kirche anzusehen, während die durch die Papstrevolution im 11. Jahrhundert geprägte römische Kirche nur den zweiten Platz beanspruchen könne. In der Alten Kirche wurde aus Leben und Lehre der Apostel das Dogma formuliert. Obwohl seine Fassung ohne philosophische Anleihen (Neuplatonismus) nicht auskam, kennt die Ostkirche keine theologische Wissenschaft. Die Scholastik ist ein Kind Roms.

Geschaffen wurde aber in der Alten Kirche eine überaus reiche Liturgie um das zentrale Ereignis: Auferstehung Christi. Ostern ist deshalb das Fest der Orthodoxie. Diese Siegesfeier über Tod und Übel wird jedoch mit einem Preis bezahlt: Weltabstinenz. Der Mönch mit seiner Weltentsagung prägte die Ostkirche - etwa auch darin erkennbar, daß der Gemeinde prinzipiell am Sonntag die volle Mönchsliturgie zugemutet wird. Für die Ostkirche ist ein Verhalten charakteristisch, das wesentlich von dem der West- und dem der Nordkirche abweicht. Sie hat nicht nach dem “Schwert” gegriffen und sich nur beschränkt auf das soziale Leben eingelassen; Sozial- und Bildungsaktivitäten wurden in der Regel nur in einem für sie selbst unerläßlichen Maße entfaltet. Die Trennung des Sakralen von dem Profanen läuft auch sichtbar durch den Kirchenraum: die Ikonastase ist die Scheidelinie. Trotz dieser weitgehenden Trennung darf nicht übersehen werden, daß es auch im Osten nicht in jeder Beziehung eine scharfe Trennungslinie gegeben hat: so war z.B. die Bestimmung der Heiligen mehr ein Akt des Volkes als der Kleriker und im Starzentum fand die unmittelbare Begegnung zwischen Laien und Mönch statt. Doch diese Berührungen überwanden nicht die grundsätzliche Trennung von Sakralem und Profanem.

In Hungerzeiten fallen allerdings die Mängel einer derart verfaßten Kirche besonders auf. So schrieb Rosanow 1919 in “Apokalypse unserer Zeit”: das Christentum sei hinsichtlich des irdischen Lebens ohnmächtig und “singt nur, immerzu singt es nur, wie ein kleiner Singvogel”. (Russische Religionsphilosophen. Hrsg. v.v. Bubnoff. Heidelb. 1956, 161).

Die Verewigung des Auferstehungstages macht die Ostkirche zu einer “geschichtslosen” Institution - “für den Endpunkt des Lebens, nicht für das Leben selbst”. (Östl.Chr. I 363) Die Erlösung wird “dramatisch” nachvollzogen, doch zu offensichtlich leben wir Menschen noch in der Offenbarungszeit, in der Zeit des Wartens auf die Wiederkunft des HERRN. Daß die für uns erfahrbare Erlösung nur etwas Zeitweiliges sein kann, belegt m.E. auch das Leben und das Werk Joseph Wittigs. Die Zeitweiligkeit nimmt der Erlösung keineswegs ihre Bedeutsamkeit.

Im Osten hat die Weltabgewandtheit der Kirche eins außerordentlich gefördert: das enge Nebeneinander krasser Widersprüche. Das sieht auch Ehrenberg: der Christ steht neben dem Heiden, der Erlöste neben dem Unerlösten. (Östl.Chr. I 367) Derartige Widersprüche dürften heute noch in der Begegnung mit östlichen Menschen erfahrbar sein: tiefe Menschlichkeit einerseits und rohe Brutalität andererseits.

Da mir immer wieder Personen begegnen, die die östlichen Menschen zu einer Gestalt - entweder zu der des Sanftmütigen oder der des Vergewaltigers - vereinheitlichen (was meiner persönlichen Erfahrung nach völlig unmöglich ist), sei Wassilij Grossman zitiert:

“Im Laufe der Geschichte der russischen revolutionären Bewegung haben die Züge der Hinwendung zum Volk - Sanftmut und Bereitschaft, Leiden auf sich zu nehmen, wie sie der russischen revolutionären Intelligenzia eigen waren und wie sie seit der Zeit des frühen Christentums wohl nicht ihresgleichen kennen - sich mit den unmittelbar entgegengesetzten, aber vielen russischen revolutionären Veränderungen ebenso eigenen Zügen vermischt - mit Verachtung und Unerbittlichkeit gegenüber menschlichem Leiden, mit der Huldigung eines abstrakten Prinzips, der Bereitschaft, nicht nur Feinde, sondern auch Mitkämpfer zu vernichten, kaum daß sie in irgendeinem Punkt von der Auffassung dieser abstrakten Prinzipien abweichen.” (Alles fließt … Mchn & Hmbg 1985, 185 f)

In einer Zeit, in der viele Katholiken und Protestanten meinen, die Kirche könne sich nicht genug sozial und möglichst noch politisch engagieren, drängt sich die Frage auf: was mutet uns Hans Ehrenberg zu, von einer Kirche zu lernen, die gerade in dieser Hinsicht nichts Vorzeigenswertes geleistet hat? Nun, sicherlich ist von der Ostkirche bezüglich sozialen Engagements nichts zu lernen. Die Antwort liegt in einer anderen Richtung. Zunächst bedarf es des Blickes auf die eigene Kirchensituation. Nach dem 1. Weltkrieg war der deutsche Protestantismus bankrott, durch ein viel zu weitgehendes Engagement in Sachen Kaiser und Vaterland desavouiert und auch wissenschaftlich verirrt. Die Theologie hatte zur Auflösung eines genuin christlichen Vermögens geführt: eschatologisch zu denken und liturgisch zu leben. (Ostl. Chr. I349) Und es läßt sich m.E. noch nicht sagen, diese Fähigkeiten besäßen wir heute in wirksamer Form wieder. Aus diesem Grunde geht uns Hans Ehrenbergs Rat noch unmittelbar an: in dieser Hinsicht von der Ostkirche und von Östlichen Denkern zu lernen.

Ein erster Schritt in diese Richtung könnte darin bestehen, die volle Berechtigung des Osterjubels für die Zeit der Gnade anzuerkennen, in der es ja nach einem russischen Osterlied darum geht: “Des Todes Tötung feiern wir, die Zerstörung der Hölle, den Ausbruch eines anderen Lebens, des ewigen ..

B Der barbarische Staat

Ein enormer Gegensatz hat im Osten Tradition: hier lobpreisende Kirche und da barbarischer Staat. Dieser Zustand ist ohne Zweifel durch die weltlose Kirche mitbedingt. Kirche und Staat waren sichtbar in der Person des Zaren verklammert, dem ja ein besonderes Gottesgnadentum zugesprochen wurde.

Diese Stellung des Zaren verleitet immer wieder dazu, sie als Cäsaropapimus zu kennzeichnen. Die Bezeichnung hat Ehrenberg nur eingeschränkt für die synodal verfaßte Kirche seit Peter dem Großen aufgegriffen. Unabhängig von der Kirchenverfassung hat er aber beim Staat eine permanente Sprungbereitschaft “zur alten heidnischen Theokratie” festgestellt. (Östl. Chr. I352) Als reine Theokratie kann letztlich weder Byzanz noch Moskau angesprochen werden, denn den Herrschern fehlte die eigentlich theologische Kompetenz (zu Byzanz vgl. etwa Hans-Georg Beck).

In “Kirche und Staat im Osten” (Hochland 1921) unterscheidet Ehrenberg drei Beziehungsarten zwischen den beiden Institutionen: a) der Unter- bzw. Überordnung (mittelalterl. Katholizismus), b) das Nebeneinander (seit der Reformation) und c) das Ineinander im Osten. Im letzten Fall bestehen die beiden Institutionen frei voneinander, sind jedoch gleichzeitig ineinander verfilzt wie Seele und Leib. Dieses separierte Ineinander habe für beide bedenkliche Folgen ein Defizit an Geist bei der Kirche - die nur Seele - und an Beseelung beim Staat - der nur Leib sei -, was dem letzteren den “barbarischen”Zug gebe.

Ehrenberg sah auch 1921 richtig, daß der Ausfall des Zaren die Tendenz zum staatlichen Barbarentum verstärken würde. Was er damals nicht so klar ausgesprochen hat, ist m. E. die Tatsache, daß mit dem Bolschewismus sich im Osten bisher konsequenteste caesaropapistische System etablierte. Der Papismus hat im militanten Atheismus, seine Konzessionen an die Kirche tragen prinzipiell nur vorübergehenden Charakter. Die Etablierung dieser säkularen Theokratie wurde sicherlich durch die Ein-Schwert-Lehre der Kirche gefördert, die ja auch immer wieder geistige Vertreter im Osten fand. So hat z.B. der von Ehrenberg hochgeschätzte Dostojewski die Forderung vertreten, der Staat solle Kirche werden.

Wie beurteilt nun Hans Ehrenberg den bolschewistischen “Überstaat” (Rosenstock 1957)? In einem Anfang 1920 niedergeschriebenen Text “Wir und Rußland” heißt es erstaunlich positiv: “Der Bolschewismus ist Rußlands erste europäische Tat.” (83) U.a. verweist er darauf, daß das Land seine bisherige Treue zu Christus teuer habe bezahlen müssen: ohne Anteil an der modernen Kultur. Erst im vorigen Jahrhundert seien Versuche unternommen worden, aus der “klösterlichen Einsamkeit” auszubrechen. Zu Beginn der zwanziger Jahre war ja noch vieles im Fluß und ein sicheres Urteil nicht möglich. Lenin wurde vor allem als Erbe des Westens gedeutet: “Proudhon und Marx verschmelzen zum Rußland Lenins.” (85) Die Weltanschauung des Bolschewismus mit ihrer Soziallehre, ihrer Wissenschaftsorientierung und ihrem Atheismus war ja Westimport. Daß bei diesem Akt die im Westen selbstverständliche Persönlichkeitsachtung nicht übernommen wurde, ändert nichts am Ursprungsort der Importe.

Neben der Erkenntnis, daß im Osten Theorien des Westens ins Praktische umgesetzt wurden, war es sicherlich auch die Erfahrung des Epoche-Ereignis 1. Weltkrieg, die nahelegte, das bolschewistische Experiment nicht voreilig abzuwerten, Der blutige Weg unter dem “Kremlbergbewohner” (Mandelstam) war noch nicht sichtbar. Sonst hätte auch Rosenstock z.B. in der gleichen Sammelschrift “Osteuropa und wir” (Schlüchtern 1921) kaum vorgeschlagen, Millionen von deutschen Arbeitern in Sibirien anzusiedeln: “deutsches Volkstum … im Bewußtsein der Schicksalsgemeinschaft mit der Heimat.” (78)

Ganz offensichtlich wurde damals der totalitäre Charakter des Sowjetstaates unterschätzt, der für die einzelnen Volksgruppen heute noch ein großes Problem ist. Wie bereits erwähnt, wurde aber von Ehrenberg die Tendenz zur Stärkung der Barbarei erkannt. Die enormen Blutopfer bei der Kollektivierung der Landwirtschaft (1929 ff.) und bei den Säuberungsaktionen (1935 ff.) waren damals unvorstellbar, auch wenn ganz offenbar die Geisteshaltung der Bolschewiki Menschenverachtung einschloß. Institutionell gesehen hat sich im Osten zweierlei als besonders verhängnisvoll erwiesen: Diktatur einer Partei und Bürokratisierung. Hinsichtlich der letzteren waren selbst Lenin schon einige Bedenken gekommen, ohne daß er daraus Konsequenzen zog. Mit erstaunlicher Klarsicht erkannte er die “Invasion” der neuen Institutionen durch “Schurken und Gewalttäter”, d.h. durch den “typischen russischen Bürokraten”; geflissentlich übersah er dabei die guten Wirkungsmöglichkeiten, die er als Konstrukteur der Institutionen den “Schurken” eröffnet hatte.

Nun haben die Bolschewisten aus ihrem militanten Atheismus nie ein Hehl gemacht. Dies hätte ja eigentlich ausreichen müssen, Ehrenberg als dezidierten Christen - 1920 zwar noch nicht Theologe - für einen Antibolschewismus zu gewinnen, wie er sich damals in Deutschland in einer “Liga” organisierte. Doch davon hielt ihn zweierlei zurück: Die Einsicht, daß der notwendige Austausch zwischen Ost und West erst stattfinden könne, “nachdem sich der Westen im Osten ausgelebt hat”. (86) Ferner sei Heidentum im Programm der “Liga” sichtbar. “Nicht vom Osten droht uns der Antichrist, er sitzt im eigenen Blute.” (86f) Dieser 1920 geschriebene und 1921 publizierte Satz ist eine prophetische Aussage. Der Antichrist kam ja zu uns Deutschen in der Gestalt des Antibolschewisten Hitler. (Zum Teufel s.a. “Exkurs”)

Heute kann man selbstverständlich leicht feststellen, daß sich manche frühe Aussage Ehrenbergs nicht bewahrheitet hat. Das russische Experiment hat sich nicht als eine wirksame Teufelsaustreibung aus Westeuropa erwiesen:

“Die Weltrevolutionäre vollbringen also das Umgekehrte dessen, was sie vermeinen zu tun: sie treiben den Teufel aus Europa aus, denn sie führen ihn nach Rußland! Sie bringen die lange und bisher unheilbare Krankheit Europas zur Krise und so zum vollsten Ausbruch und helfen den Leib Europas entgiften. Und vielleicht vermögen wir nun Christus, dem wir den Teufel entgegenschickten, aufzunehmen. Jetzt vielleicht kann aus der Wirkung des bisherigen christlichen Rußlands auf uns, aus dieser zuvor nur geheimen Beeinflussung, eine Furcht erwachsen. Die trennende Wand ist niedergerissen. Zu uns kommt nicht Lenin zurück - wir haben keine Bolschewisten in Deutschland - sondern zu uns kommen nunmehr - Tolstoi und Dostojewski!” (87)

Dieser gewünschte heilsame Austausch fand nicht statt. Das wurde Ehrenberg auch im Laufe der Weimarer Zeit klar. In seinem “theologisch-politischen” Werk von 1932 “Deutschland im Schmelzofen” spricht er denn auch andere Zusammenhänge an. Von diesem Buch hat Rosenstock gesagt, es handele sich um eines der “mehraltrigen Bücher”, das “die Sinne schärfen könne für den Urklang, der im Geschehen der Nachkriegszeit vernehmlich wird.” Methodisch ist zur “theologisch-politischen” Perspektive Ehrenbergs anzumerken, daß für sie die Dreiecksstruktur grundlegende Bedeutung besitzt und daß in ihr der Teufel eine wirksame Macht als “Fürst der Welt” (siehe: “Exkurs”) ist.

Das erste Kapitel dieses Buches lautet: “Moskaus Offensive gegen Deutschland”. Hierin kommt zum Ausdruck, daß in den Jahren der großen Wirtschaftskrise der Einfluß des Ostens auf Deutschland sehr viel stärker empfunden wurde als der des Westens; dem entspricht auch das Verhalten des Nationalsozialismus. Ehrenberg entgingen damals jedoch nicht die antipodischen Beziehungen der beiden künftigen Weltmächte: “Amerika ist solarisch, Moskau tellurisch - Amerika nichts als Kopf, Moskau nichts als Leib.” (17) Beide hätten die Gesellschaft revolutioniert, ohne daß ein neuer Geist geboren wäre. Das Resultat sei Uniformität. Ehrenberg gibt eine Fundamentalkritik an den Zeitströmungen, die noch heute im wesentlichen beherzigt werden kann:

“Die Auflösung der Lebensordnungen, genährt von dem überkommenen bürgerlich-selbstherrlichen Geist der Selbsterlösung, der Traditionsverachtung, des Persönlichkeitskultes und seiner Abart, des Führerkultes, macht die neue Gesellschaft zu einer Stätte der vollen Auflösung, und was in Rußland zum Dogma erhoben wurde, hat Amerika ohne Dogma überflutet. Ob kapitalistisch, ob bolschewistisch, ob demokratisch, ob faschistisch, überall die gleiche Lehre, die gleiche Zweifelssucht, die gleiche Wertung! Und in diesem Hexensabbath dieser gleichgebürtigen und doch untereinander verfeindeten Ismen - Kapitalismus humanistisch, Bolschewismus materialistisch, Demokratie spiritualistisch, Faschismus vitalistisch - hat der Nutznießer solcher Verwirrung, sein Anstifter und Fortsetzer, der Satan, das Haupt wie noch nie erhoben und braucht sich nicht mehr zu scheuen, die Erde sichtbar zu betreten. Und er, der Fürst dieser Welt, richtet seine Waffe gegen dasjenige Gotteswerk, das Gott am nächsten steht - gegen Gott selbst kann auch der Teufel nicht kämpfen - gegen Gottes Schöpfungsordnung, die Woche, Werktage und Sonntag.

Die Offensive auf das Tagewerk der Schöpfung hat ihr Hauptquartier nahe dem Ural, an der Grenze von Europa und Asien. Sein Angriff richtet sich zuerst gegen seinen Mitarbeiter auf der ihm feindlichen Seite, gegen das Weltkapital, dessen oberstes Hauptquartier in der Wallstreet in New York aufgeschlagen ist, sodann gegen seinen wirklichen Gegner, gegen Christus und jede seiner Kirchen.” (17 f)

Zwar hat Moskau den Versuch, die siebentägige Woche abzuschaffen, sehr bald wieder aufgegeben, doch es darf nicht übersehen werden, daß es sich nach wie vor aggressiv verhält.

Nun war ja damals - und es gilt im abgeschwächten Maße heute noch - die relative Armut des bolschewistischen Angreifers nicht zu verkennen. Ein bekannter Theologe war dadurch zu der Äußerung verleitet worden, in dem Bolschewiken sei der arme Lazarus zu erblicken, der zornig geworden sei und die Geduld verloren habe. Einen derartigen Vergleich läßt Ehrenberg nur auf der Personen-Ebene gelten, lehnt ihn aber für den “Kommunismus als System” scharf ab. Lazarus ist nach ihm der Mensch, der in seinem Hunger und Leide ernstgenommen werden will, der nach Liebe verlangt.

“Der Maximalist aber - so heißt Moskau nach seiner eigenen Selbsttitulierung - will auf keine Weise geliebt werden. Er verachtet die Liebe, jede Liebe, und will nicht Lazarus (= Gott hilft) heißen. Die Monumentalität seines (Lenin) anfänglichen Dekretierens läßt sich nur mit der biblischen Schöpfungsgeschichte vergleichen.’ (Fedor Stepun) Und Trotzki schreibt von Lenin: Er nahm die Ereignisse en masse und dachte in Blöcken.’” (20)

Es kann, und da muß Ehrenberg doch zugestimmt werden, in den Beziehungen zwischen Menschen und auch Nationen nicht von dem deklarierten Selbstverständnis des Anderen abstrahiert werden, auch wenn man Willensäußerungen nicht als Taten ansehen darf. Das sowjetische Njet wertet Ehrenberg 1932 so:

“Moskau ist der letzte Erbe des abendländischen Geistes, als Angrenzer zum Morgenland für alle Zeiten der letzte Erbe. Europa soll nach Moskaus Willen nie wieder einen Erben erhalten, und Moskau trachtet daher vatermörderisch seinem Erzeuger und Erblasser nach dem Leben. Es stellt alle abendländischen Systeme, christliche wie nichtchristliche, auf den Kopf. Moskau verneint nicht nur Gott und alle religiösen Stiftungen, nicht nur alle Metaphysiken und Kultursysteme, sondern auch die wissenschaftliche Weltanschauung von der Würde der Forschung, der Freiheit des Gedankens und der schöpferischen Bestimmung des menschlichen Geistes.” (20 f.)

Die Verneinung von Tod und Leben ließ den Bolschewismus als ein titanisches Unterfangen erscheinen. Dabei fiel nicht so ins Gewicht, daß er als Konstrukteur einer neuen Weltordnung nicht sehr überzeugte, es genügte - das erkannte Ehrenberg schon damals -, daß er als eine Art “Riesentransformator” auftrat, der die Defensive von Entrechteten, Gescheiterten und Schwachen in eine Offensive umzuformen versprach. Diese Aufgabe nimmt ja die UdSSR heute noch wahr, wenn dabei auch wegen des Fehlens einer überzeugenden Sowjet-Praxis oft Schwierigkeiten auftreten (vielfach in politischer Hinsicht wettgemacht durch das einfachere Ordnungsmodell “Diktatur”).

Die außerordentlichen Schwierigkeiten mit der Planwirtschaft, die uns ja noch heute in den Zeitungen begegnen, hätten eigentlich an diesem Wirtschaftsmodell schon zu grundsätzlichen Korrekturen führen müssen, doch die Maximalisten sind extreme Idealisten, die sich ihr “Ideal” nicht in Frage stellen lassen.

“Das Land des Maximalismus mußte ein Land des neuen ungeahnten Martyriums werden - mußte? ja, weil der Maximalist sich nur durch Blutterror die Wut über die dauernde Flucht eines Ideals abreagieren kann. Der Maximalist mordet, um die ihm vollständig unverständlichen verborgenen Widerstandskräfte in Schöpfung und Kirche auszutilgen.” (23)

Der Maximalismus sei ein System der Teufelsherrschaft, nicht der Teufelsverehrung. Dieser Satanismus, in dem die Besessenheit Europas zum Ausdruck komme, fordere nicht “zu einem klaren Kampf gegen den Teufel, sondern zu einem furchtbaren Dämonenkrieg heraus.” (24) Vier Lebenswerte habe der Maximalismus:

  1. Proletarisierung im Sinne einer schichtenlosen Gesellschaft.
  2. Materialisierung im Sinne einer reinen Verdiesseitigung.
  3. Emanzipierung als Mord der Freiheit wie der Unfreiheit.
  4. Revolutionierung als Ablehnung jeglicher Überlieferung.

Diese Zielsetzungen sind rd 70 Jahre nach der Oktoberrevolution nicht mehr unverändert feststellbar. Es gibt eine “neue Klasse” in der Sowjetunion, die christlichen Kirchen verschwanden nicht vollständig von der Bildfläche (sie werden - wie das aus einem bekanntgewordenen Staatsdokument hervorgeht - vor allem wegen Auslandsbeziehungen und zu Friedenspropagandazwecken toleriert), die Emanzipierung von der Freiheit war erfolgreicher als von der Unfreiheit, Lenin - dieser “fanatische … und phantastische Experimentator” (Stepun) - wurde zum atheistischen Heiligen, schließlich wurde vor der Abschaffung der eigenen Nationalgeschichte halt gemacht, nachdem erkannt worden war, welchen politischen Nutzen sie liefern kann.

Warum empfand Ehrenberg 1932 den Angriff Moskaus auf Deutschland so lähmend, da er doch sah, daß die KPD kein politisches Gewicht besaß? Beunruhigt wir er im Hinblick auf die “deutschen Übernationalisten”, in denen er potentiell Verbündete Moskaus erkannte, “wenn sie nicht Nachbarn wären” (28).

Hiermit hat er also die Möglichkeit des Hitler-Stalin-Paktes von 1939, der ja bekanntlich die Voraussetzung für den Ausbruch des zweiten Weltkrieges war, erahnt. Der Angreifer in diesem Krieg endete, wie bekannt, im Selbstmord, der Bolschewismus ging aus ihm gestärkt hervor.

Unverändert ist der Bolschewismus als “System” ein Gegner des Christentums.
Der Kampf der Sowjetunion gegen das Nazi-Deutschland hat den Bolschewismus nicht getauft. Wer als Christ oder freiheitlicher Sozialist meint, der Hauptgegner sei der Kapitalismus, verkörpert in Amerika, und um diesen zu besiegen, sei ein Bündnis mit der Sowjetunion möglich, kann Hans Ehrenberg für seine Haltung nicht in Anspruch nehmen. Vor Teufelspakten hat dieser nur gewarnt. Er hat auch mit Nachdruck vor einer dualistischen Simplifizierung der Wirklichkeit gewarnt. Insbesondere hat er auch ausgesprochen, daß Amerika und Rußland nicht mit ihren dominanten “Systemen” - also Kapitalismus und Kommunismus - gleichzusetzen sind; diese Ismen sind Kopfprodukte, und der Kopf wird lebendiger Wirklichkeit nicht gerecht. Doch in dem aufgezwungenen “Dämonenkrieg” kann es keineswegs darum gehen, das wird bei Ehrenberg sehr deutlich, Widersprüche zu überhören und im Geistigen um jeden Preis “Frieden” anzustreben.

Stärker an Rosenstock orientiert möchte ich abschließend einige Thesen zur Sowjetunion formulieren:

C Die demütigen Denker des Ostens

In seiner Festschrift “Kraft und Innigkeit* (Heidelbg 1953) steht ein Auszug aus einem Brief, den Ehrenberg wohl Anfang des zweiten Weltkrieges geschrieben hat. Namentlich sind als Adressaten der Bischof von Chichester und Nikolai Berdjajew angeführt:

“Auf den Ruf nach einem neuen Typus des Menschen hat Dostojewski eine Antwort… Durch seine Werke läuft eine Art von Menschlichkeit, die ihre Wurzeln weder im klassischen noch im modernen Geist hat. Diese Art der Menschlichkeit ist die der heiligen Liebe oder Agape… Frauen wie die Prostituierte Sonia in “Schuld und Sühne”, der Priester Sossima und junge Männer wie Aljoscha in den ‘Karamasoffs’, die Mutter in ‘Eine harte Jugend’, der Prinz Myschkin im ‘Idioten’ und viele der untergeordneten Menschen gehören ganz oder teilweise zu dieser neuen Generation der Menschlichkeit. Ganz Europa schreit nach dem Neuen Menschen.” (149)

Dostojewski ist für Ehrenberg eine zentrale Bezugsperson des Ostens. Er nennt ihn auch mal den “Kirchenvater der modernen Zeit” (Chr. Welt 1925, 246). Ein kleines Auswahlbändchen aus dessen Werk gab er heraus. In der Einleitung heißt es bezugnehmend auf Tolstoi und Dostojewski:

” … gegenüber dem geist- und werkstolzen Europäer verkörpern die beiden Russen gemeinsam die Überzeugungen der Demut.” (6) Damit sind die zwei Haupt-Worte genannt - Liebe und Demut -, auf die es Ehrenberg ankommt. Die Agape/Liebe ist ein Zentralwort des Christentums. Das östliche Christentum sei deshalb “stark und hart” geblieben, weil es dort in “barbarischer Luft” leben mußte; “neuchristliche Verzärtelung und die Durchmischung mit fremdem Geist blieb ihm erspart.” (6) Erspart blieb ihm auch eine “Luft der Kritik” die “durchschlagende Geistesereignisse” nicht zuließ. Der Geistesstolz des Westens blieb dem Osten fremd, so daß die östlichen Denker einen leichteren Zugang zur Demut hatten und diesen auch nutzten. Die Demut der Geistigen hält Ehrenberg für unerläßlich; Rosenstock hat auf seine Weise m. E. das gleiche gefordert, indem er sich für ein “Töchterlich-Werden des Denkens” einsetzte. Dem steht natürlich die von den Griechen her tradierte Souveränität des Denkens entgegen. Sprachdenken ist ein “neues Denken’ , weil es nicht von diesem Souveränitätsanspruch ausgeht, sondern die Abhängigkeit des Denkers vom WORT und den Worten der Anderen anerkennt. Ein geistesstolzer Sprachdenker widerlegt seine Worte. Rosenstock fordert neben “kühner Demut” “schweigende Gottesfurcht”.(Heilkraft und Wahrheit 50)

Nun ist es bezeichnend, daß uns Ehrenberg nicht in erster Linie auf Stimmen hinweist, die rein Östliches artikulieren, sondern auf jene Personen, die empfänglich für westliches Denken waren. Es sind hier vor allem zwei Namen zu nennen: Dostojewski und sein geistiger Vater Kirejewski.

Den letzteren zitiert Ehrenberg auch in der hier wiedergegebenen Arbeit. Dabei geht es u.a. um die Schilderung des Eindruckes, den der 24-jährige Russe durch den Besuch einer Vorlesung des großen Theologen Schleiermacher erhielt. Kirejewski erkannte nämlich den Zwiespalt in dessen Brust zwischen vernünftiger Überzeugung und seelischer Gewißheit. So bemerkte er, dieser könne nicht “zu den wahrhaft Gläubigen” gehören. (Östl.Chr. I 340 f) Kirejewski machte auch eine Wandlung durch: von einem Westler wurde er zu einem Slawophilen. Dieser Weg war kein Umschlag von blinder Liebe in blinden Haß, denn seine Liebe war nicht blind.

Von den beiden großen russischen Schriftstellern Tolstoj und Dostojewski sagt Ehrenberg, daß sie in einem Menschen vereinigt einen Übermenschen ergeben hätten. Gesondert sind sie aber durchaus Menschen mit Schwächen: Tolstoj sage zuviel Nein und Dostojeswki zuviel Ja. So begehe der eine die männliche Bünde des Widerstrebens und der andere die weibliche der Verführung. Das Urchistentum bedürfe aber nicht nur der Predigt der Passion und des Heils, “sondern nicht minder der ältesten Verkündigung, der des Sündenfalls.” (Wir und Rußland 89,91).

In Dostojewski sieht Ehrenberg einen “modernen Dante”. (Einleitg 13) Allein durch seine Werke wirke er so wie Goethe: Werke plus Tagebücher, Briefe und Gespräche. Diese notwendige Ergänzung bei dem Deutschen deute auf eine Differenzierung zwischen ihnen. Bei dem Russen sei “Urmensch” und “Kultur-mensch” noch eins. Die Einheit, d.h. die “volle Wiederherstellung des Verhältnisses zwischen dem Volk und den Intellektuellen” heiße das durchgehende Lebensthema Dostojewskis.

Bekanntlich sind ja einige überaus nationale Äußerungen Dostojewskis überliefert (Tagebuch eines Schriftstellers). Ehrenberg versucht diese dadurch abzuschwächen, daß er zwischen dem Glauben des “irdischen” (Volk) und des “christlichen Menschen” (Gott, Erlösung) unterscheidet. “Volks- und Gottesglauben verschmolzen, ergeben Dostojewskis Religion und Weltanschauung. Daher erscheint uns das Bild seines Gottesverhältnisses durch den Nationalismus, ja kriegerischen Imperialismus seines politischen Glaubens getrübt. Doch ist das bei ihm nicht der westliche Chauvinismus; denn es ist ja Volks- und nicht Staatsglaube. Der durchgängige bestimmende Zug sowohl seiner irdischen Persönlichkeit wie seiner Ideenwelt bleibt die DEMUT.” (Einltg 11 f)

Ich halte diese Unterscheidung zwischen Volks- und Staatsglauben bei Dostojewski nicht für sehr tragfähig, denn Dostojewski war - wie angedeutet - Theokrat. Zudem ist der großrussische Chauvinismus durchaus noch ein Stück lebendiger Gegenwart, wie man u.a. von Lew Kopelew erfahren kann, und dazu passen zu gut Äußerungen Dostojewskis. Diese Schwachstelle nimmt aber, und darin möchte ich Ehrenberg im Ergebnis voll zustimmen, dem Lebenswerk eines Mannes, in dem es zentral um den “Kampf zwischen Glauben und Unglauben” geht, nicht die Qualität.

Zu der bedeutendsten Ost-Leistung Ehrenbergs muß wohl die Herausgabe der zwei Dokumentenbände “Östliches Christentum” gezählt werden, die er mit je einem Nachwort versah: “Die Europäisierung Rußlands” und “Die Russifizie-rung Europas oder die Frage der Trinität”; als Mitherausgeber und Übersetzer ist dabei Nicolai v. Bubnoff zu erwähnen. Mit Absicht stehen die Geleitworte am Schluß jedes Bandes, denn zunächst soll der Leser die russischen Stimmen selbst wahrnehmen. Es kann hier nun nicht umrissen werden, was auf vielen Seiten steht. Doch Titelangaben und kurze Hinweise mögen eine Ahnung vermitteln, was Ehrenberg da zusammengestellt hat.

Der erste Band steht unter dem Stichwort “Politik”. Damit deutet er mehr auf praktische Fragen - in Absetzung von der “Philosophie” des zweiten Bandes. Er vereinigt Arbeiten von fünf damals nicht mehr lebenden russischen Autoren und enthält auch anonyme Auszüge aus Sektiererschriften. Im zweiten Band werden dagegen hauptsächlich Schriften damals lebender Autoren wiedergegeben - Ausnahme: eine kleinere Schrift von Chomjakov, der auch schon im ersten Band vertreten ist.

Die Dokumentation beginnt mit Tschaadajews (1794-1856) “Philosophischen Briefen”. Der Autor gilt vielfach als der erste namhafte Westler. Doch unkritisch war seine Neigung zum Westen kaum, wie z.B. seine Kritik am Griechentum belegt. So hält er Homers Einfluß auf den menschlichen Geist für negativ, denn dieser habe u.a. den “verderblichen Heroismus der Leidenschaft” (78) eingeführt.

Von dem Slawophilen Aksakov (1817-1860) ist das 1855 dem Zaren vorgelegte „Memorandum” neben kleineren Aufsätzen wiedergegeben. Im Schreiben an den Zaren findet man erstaunliche Sätze: „Der Staat gebe dem Lande das ihm Gehörende wieder: den Gedanken und das Wort. Dann wird das Land der Regierung wiedergeben, was ihr zukommt: sein Vertrauen und seine Kraft.”(118) “Das Wort ist das Banner der Menschen auf Erden!” (122).

„Einige Worte eines orthodoxen Christen über die abendländischen Glaubensbekenntnisse” ist der längste von Chomjakow (1804-1860) abgedruckte Beitrag, daneben noch zwei Briefe an Aksakow „Leiden und Gebet” sowie „Gebet und Wunder”. In „Einige Worte..” steht der Satz: „Der Protestantismus ist ein System, welches ein anderes ableugnet.” (152) Damit wird der Autor sicherlich dem Protestantismus nicht gerecht, doch vermutlich trifft diese Charakterisierung auf viele Protestanten unterschiedlichster Schattierung zu.

Die „Sektiererfragmente” spiegeln einige Brutalitäten russischer Geschichte wieder. In ihnen erscheint Peter der Große als Antichrist. Er war nicht der erste Zar, der als ein solcher angesehen wurde. Auch der Patriarch Nikon, der die erste Kirchenspaltung in Rußland Mitte des 17. Jahrhunderts mitverursacht hatte, galt in den Augen der Sektierer als Antichrist.

Leontjew (1831-1891) ist mit zwei Schriften vertreten: „Tempel und Kirche”, „Die Nationalpolitik als Werkzeug der Weltrevolution”. In der ersten ist ein alter russischer Traum thematisiert: Konstantinopel - vom Autor „Zarigrad” benannt - als Metropole eines „orientalisch-orthodoxen Bundes”, Ein erstaunliches Gespür für künftige Entwicklungen zeigt Leontjew in „Nationalpolitik”, wobei jedoch die näheren Begründungen oft nicht zutreffen. Immerhin wird von ihm die entscheidende Rolle Rußlands in der kommenden „Weltrevolution” angesprochen.

Bemerkenswerte Auffassungen äußert Solowjow (1853-1900) in „Die Geschichte der jüdischen und christlichen Theokratie” (ein Auszug aus „Das Judentum und die christliche Frage”). 1884 bewegen Solowjow schon ökologisehe Fragen. Er spricht vom „wirtschaftlichen Raubbau” am Boden, der durch die überlieferte Wirtschaftsweise verursacht werde. Letztlich gilt seine Kritik einer am individuellen Eigennutz orientierten Wirtschaft. „In der Theokratie aber ist das Ziel der wirtschaftlichen Tätigkeit die Vermenschlichung des materiellen Lebens und der Natur, seine Gestaltung durch die menschliche Vernunft, seine Beseelung durch das menschliche Gefühl.” (332)

Chomjakows Aufsatz „Die Einheit der Kirche” steht am Anfang der Dokumente in Band zwei. In ihm wird keine Una Sancta unterschiedlich verfaßter Kirchen entworfen, wie das etwa Ehrenberg in der “Heimkehr” unternahm, sondern die orthodoxe Kirche wird als die Eine Kirche ausgewiesen.

Der folgende Beitrag ist mit nahezu 170 Seiten der bei weitem umfangreichste der ganzen Dokumentation. Er stammt von Pawel Florenski (1882-1943) „Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit”. Es handelt sich um den Teil eines größeren Ganzen “Die Philosophie der Diskontinuität”. Das Universalgenie Florenski versucht mit Hilfe der griechischen Philosophie die christliche Lehre so weit zu fassen, daß ihre Wahrheit auch die Verneinung mit einschließt und somit sich als absolut erweist. Der Qualität Lebens-Zeit kann er auf diese Weise nicht gerecht werden. Seine Lehre trug ihm Widerspruch von orthodoxer Seite ein, doch wird er heute neben Sergej Bulgakov von der Orthodoxie sehr geschätzt. Nach der Revolution arbeitete er als Naturwissenschaftler und Elektroingenieur - im Priesterrock, der ihm schließlich die Verbannung einbrachte, in der er umkam.1

Das dritte Dokument stammt von Sergej Bulgakov (1871-1944) „Kosmodizee” (s.w.u.) und das vierte von Berdjajew (1874-1948) „Anthropodizee”. Letzterer ist wohl der im Westen bei weitem bekannteste russische Denker des 20. Jahrhunderts. Man nannte ihn „Ritter der Freiheit” - ein Philosoph der Freiheit war er sicherlich. Zentral ist für ihn auch der Satz: „Das Christentum ist in seinem Kern anthropologisch.” (246)

Der letzte Beitrag aus russischer Feder kommt von Karsawin (1882-1952) „Der Geist des russischen Christentums”: „Am wenigsten ist der russische Mensch geneigt, sich mit einem Kompromiß, mit dem ‘Spießbürgertum’, mit demjenigen, was er den ‘faulen Westen’ nennt, auszusöhnen. Er ist seiner Natur nach Maximalist, ‘Bolschewik’, wenn auch nicht immer aktiver.” (369)

Diese Übersicht läßt vielleicht schon etwas von der Vielfältigkeit des Dokumentierten erahnen. Auch Hochmut klingt an. In seiner Vorbemerkung zu Band 2 sagt Ehrenberg, daß es ihm keineswegs um eine Idealisierung des Ostens gehe - noch dazu angesichts von dessen offenkundigen Schwächen -, vielmehr um „Anschluß an altchristliches Denken”, den der Westen ohne Zweifel verloren habe. Haben wir ihn wieder hergestellt?

D Vom Bruder und vom Anderen

Die theologische Thematik Hans Ehrenbergs spannt sich von der „Heimkehr des Ketzers” (1920) bis zu seinem Aufsatz „Das Evangelium der ‘Anderen’ (Glaube - Unglaube, kirchensoziologisch und theologisch interpretiert)” in: Junge Kirche 1957 (675-86). Beachtet man, daß 1920 die Betonung auf „Heimkehr” lag - also auf einer Bewegung nach Innen -, so liegt sie 1957 auf der entgegengesetzten Richtung nach Außen, weist zum Anderen, zum Ungläubigen. (Der Ketzer ist Johannes-Mensch, kein Atheist.) Daraus kann aber nicht der Schluß gezogen werden, Ehrenberg habe am Lebensende früher Vertretenes widerrufen. In der „Heimkehr” legte er eine ökumenische Lehre der Einzel-Kirchen der vier Himmelsrichtungen vor. Jede einzelne Kirche wurde auf ihre Stärken und Schwächen hin angesprochen - und als Teil der Una Sancta aufgezeigt. Für das Gespräch zwischen den christlichen Konfessionen wurden damit die Barrieren abgebaut. Draußen blieb 1920 der „Andere”, der Atheist (Deist), der Gleichgültige gegenüber den Kirchen. Doch an seinem Lebensabend möchte Ehrenberg unsere Aufmerksamkeit gerade auf ihn lenken. Das ist aber keineswegs eine Aufforderung, auch ein „Anderer” zu werden. Es ist der Imperativ, mit dem Anderen in Beziehung zu treten. Ehrenberg geht es um eine Konjunktion von Ich und Du (= Anderer), um ein größeres Ernstnehmen des universalen Gehaltes des Evangeliums, um das Gespräch mit der Welt im biblischen Sinne.

Glaube und Unglaube ist nicht nur eine Spannung zwischen Jude und Christ einerseits und Heide andererseits, sondern auch eine in jeder Menschenbrust. Der Glaube setzt aus, wir besitzen ihn nicht als sichere Vermögensanlage. Gerade in unserer Zeit wird der Unglaube auch zu einer Lebensphase (Rosenstock hat auf eine nihilistische Phase hingewiesen). Doch um diese Zwischenphase geht es Ehrenberg nicht, er erteilt auch keine Missionsratschläge, wohl aber macht er auf Wirkungen aufmerksam. Und für eine besonders beachtenswerte Wirkung hält er die, daß dogmatisch erstarrte Orthodoxie bzw. Kirchlichkeit Atheisten und militanter Atheismus Christen erzeugt. Er geht sogar soweit zu sagen: „So kann auch Atheismus ein christliches Bekenntnis bedeuten”
(680) Für paradigmatisch hält er die Bitte: „Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben!” Nach ihm stehen wir auch in einer Situation, in der erste Erfolge irreführen, in der Mißerfolg und Erfolg komplex verbunden sind (Kreuz). Wirklichkeit und Wahrheit vereinen sich erst in ihrer letzten Gestalt, am Ende aller Tage.” (683) Zunächst suchte Ehrenberg das Gespräch mit dem „Bruder in Christo”, später das mit dem „Anderen”. Beispielhaft möchte ich diese beiden Gestalten konkretisieren durch Verweis auf Sergej Bulgakov und Alexander Sinowjew.

Bulgakov wurde 1871 in Südrußland geboren als Sohn eines Priesters und starb 1944 im Exil in Paris. Er wird als der größte orthodoxe Theologe der 1. Hälfte unseres Jahrhunderts angesehen. Mit Ehrenberg verbindet ihn mehr als eine biographische Parallele: auffällig bei beiden der äußere Weg von der Nationalökonomie zur Theologie; auch Bulgakov hat einen ausgesprochenen Sinn für Philosophie. Beide gingen ins Exil, doch nur einer konnte zurückkehren. Die Heimatliebe war aber sicher bei dem Russen weitaus stärker und erdhafter ausgeprägt als bei dem Deutschen. Sie ist deshalb sehr viel eher mit der von Joseph Wittig zu vergleichen; eine “Revision des Heimatglaubens” (s. Joseph Wittig: Die Christgeburt auf der Straße nach Landeck. Leimen 1981, 88-100) blieb Bulgakov aber erspart, seine Heimatliebe glühte ungebrochen bis zu seinem Tode. Ehrenberg gestand ihm zu, er habe “herrliche Erdworte” gefunden: “‘Große Mutter, feuchte Erde, in dir werden wir geboren, von dir werden wir ernährt, dich betasten wir mit unseren Füßen, zu dir kehren wir zurück. Kinder der Erde, liebt eure Mutter, küßt sie in Verzückung, begießt sie mit euren Tränen, benetzt sie mit Schweiß, tränkt sie mit Blut, sättigt sie mit euren Knochen. Denn nichts geht in ihr zugrunde, alles bewahrt sie in sich, ein stummes Gedächtnis der Welt, allem gibt sie Leben und Furcht. Wer die Erde nicht liebt, ihre Mutterschaft nicht fühlt, ist ein Sklave und ein Heimatloser, ein elender Rebell gegen die Mutter, eine Ausgeburt des Nichtseins. Mutter Erde, aus dir wurde jenes Fleisch geboren, welches zum Mutterleib für den fleischgewordenen Gott wurde…” (Ostl. Chr. II 211)

Im Lebenswerk Bulgakovs kommt der Sophia-Lehre eine zentrale Bedeutung zu. Die Sophia ist nach ihm eine Doppelgestalt - göttlich und kreatürlich - und dient der Aufgabe, zwischen Menschen und Gott zu vermitteln. Ehrenberg hält sie für einen “künstlichen Begriff” bzw. “gnostische Vermittlungsidee”, die von Bulgakov an die Stelle des Wortes, der Sprache gesetzt worden sei. (s. Östl. Chr. II 385) Diese Kritik ist nicht von der Hand zu weisen, denn, wie Bulgakovs Beitrag in der Masaryk-Festschrift “Das Wort belegt, ist ihm das Sprachdenken, die leibhaftige Grammatik fremd geblieben. Daneben aber sollte nicht übersehen werden, daß im Osten die Sophia eine große Rolle spielt (Hagia Sophia) und daß Bulgakovs Lehre von der Sophianität der Welt “zu den bedeutendsten Reaktionen theologischen Denkens der Neuzeit” auf die Säkularisierung von Kosmos und Gesellschaft zählt. (S. Ruppert: Sergej N. Bulgakov. in: Klassiker der Theologie. München 1982, II 269) Bulgakov ist in seinen Ausführungen auch ohne Zweifel der Einsicht nahe, die Rosenstock so faßte: “Nur als Tochter Jesu kann die neue Weisheit die Erfüllung der von den Griechen so inbrünstig verehrten Sofia werden.” (Heilkraft 48)

Bulgakov und Ehrenberg sind beide in die Schule von Karl Marx gegangen, doch nur der erste kann vorübergehend als Marxist angesprochen werden. Immerhin meinte Lenin kurz vor der Jahrhundertwende, er hätte in ihm einen Mitstreiter gefunden. Als er jedoch erkannte, daß Bulgakov kein Parteiliniendenker war, schlug sein Lob in harsche Kritik um. Bulgakov hatte gegen Kautskys These, nach der auch für die Landwirtschaft die Entwicklung - wie in der Industrie - über den Großbetrieb in den Sozialismus führe, Stellung genommen und dem bäuerlichen Kleinbetrieb Zukunftschancen eingeräumt. Lenins Zorn entzündete sich nicht an der Sachproblematik, sondern an dem Nichtakzeptieren der These einer damals unbestrittenen marxistischen Autorität. Vgl. dazu B. Wielenga: Lenins Weg zur Revolution. Eine Konfrontation mit Sergej Bulgakov und Petr Struve im Interesse einer theologischen Besinnung. München 1971. Diese Schrift kann bestenfalls als eine des 19. Jahrhunderts gelten, sie bleibt hinter ihrem Thema „Bulgakov” zurück, denn dessen Lebenswerk ist post Karl Mars zu datieren!

Vor der - dann recht blutigen - Praxis der Bolschewiki kritisierte Bulgakov mit großem Scharfblick deren Absichten Ende 1917 (Bulgakov: Sozialismus im Christentum? Göttingen 1977). Der Sozialismus der Bolschewiki erscheint ihm als eine grandiose Annahme der ersten Versuchung Christi in der Wüste, das Brot-Programm zum einzigen Erlösungsweg der Menschheit zu machen. (21)2 Für ihn ist klar, daß ein derartiger Versuch nur „von einer geistigen Gefangenschaft des Menschen” begleitet sein kann. Er geißelt geradezu die Wachstumsideologie der Bolschewiki und stellt demgegenüber fest, daß dem ökonomischen Reichtum aus der Sicht des Christen keine entscheidende Bedeutung zukommen könne. Dies ist nach ihm keineswegs eine Entwertung des Brotes. Die Hungernden zu sättigen sei Christenpflicht. Der Christ könne sich auch einer „allgemeinen Arbeitspflicht” nicht entledigen.

Bulgakov sieht in den Bolschewiki, die ja mit soviel Stolz ihre Wissenschaftlichkeit betonen, „wundergläubige Apokalyptiker” und weist auf Parallelen zu der verhängnisvollen jüdischen Apokalyptik hin. Wie sich eine „Wolfsgrube” aufgrund der Entwicklung der „toten Kräfte der Wirtschaft” in eine „sozialistische Bruderschaft” verwandeln solle, sei rational völlig unerklärlich. Auch erkannte Bulgakov klar, daß der Marxismus ein „eigennütziges und liebloses” Verhältnis zur Natur hat. Sein Verhältnis zur Geschichte bezeichnet er als „geistigen Kannibalismus” - auf die Früchte der Leistungen früherer Generationen will man keineswegs verzichten, doch Anerkennung erbrachter Opfer und Ehrfurcht vor bewirkten Leistungen werden für völlig unangebracht gehalten. Bulgakov sieht im Bolschewismus eine Spielart des Humanismus, für den der Fortschrittsglaube zentral sei. Ein Grundwiderspruch tue sich einerseits in dem humanistischen Glauben an den Menschen und andererseits in der Aufhebung der Persönlichkeit im sozialen Milieu auf, wo ja eiserne Notwendigkeit herrsche.

Wie der Bourgeois habe der Sozialist alles auf diese Welt gesetzt - und darüber hinaus noch seine Haltung durch Aktivierung des Neides ins Militante gewendet. Er sei somit ein „neidischer Bourgeois”. „Durch seine bourgeoise Predigt macht der Sozialismus die Seele des Volkes arm und leer.”(39) Diese Kritik dürfte für Ehrenberg zustimmungsfähig gewesen sein.

Die Spannungen unter “Brüdern” sind ja oft nicht so sehr äußere wie innere; gegenüber einem gemeinsamen Gegner kann man sich leicht einigen, doch, wie die Geschichte zeigt, bereiten die Differenzen zwischen den Christen nicht unerhebliche Schwierigkeiten. Davon ist auch etwas in dem “Briefwechsel” zwischen Ehrenberg und Bulgakov zu spüren, der unter dem Titel “Östliches Christentum und Protestantismus” 1928 erschien (Relig. Besinnung 1, 5 ff). Hier sei nur ein Thema gestreift: der Stundismus, eine protestantische Bewegung in Rußland. Das große Plus der Ostkirche, das auch Ehrenberg vorbehaltslos anerkennt, ist ihr Verzicht auf innerchristliche Mission. Bulgakov, auf den Stundismus angesprochen, reagiert recht scharf. Er wirft ihm vor: fehlendes Empfinden für die Sakramente, Ruchlosigkeit gegenüber der Muttergottes, die Bibel wirke in seinen Händen tötend.(12) Diese Kritik ist nur voll in ihrer Tragweite unter Berücksichtigung des orthodoxen Standpunktes zu begreifen, d. h. ihr fehlt die Ökumenische Basis. So sieht sich dann Ehrenberg in seiner Antwort gezwungen darauf hinzuweisen, daß wir als Christen mehr sein müssen als bloße Glieder der Einzelkirchen.

Dies gilt noch in sehr viel größerem Maße für das In-Beziehung-Treten mit Anderen. Bulgakov und Ehrenberg haben sich gegenseitig als “Bruder” angeredet, Sinowjew hat Ehrenberg nicht gekannt und die Anrede “Bruder” ist bei ihm völlig unmöglich, er ist ein “Anderer”.

Kurz einige biographische Daten: Sinowjew wurde 1922 geboren, geriet schon als Jugendlicher wegen seiner Kritik am Stalinismus ins Gefängnis, floh nach Sibirien, wurde dekorierter Kampfflieger im 2. Weltkrieg, studierte Philosophie und wurde 1967 Professor in Moskau, bekam einen Namen durch seine logischen Arbeiten. Kritische Äußerungen führten 1974 zu großen Schwierigkeiten, 1978 genehmigte man ihm die Ausreise in den Westen. Er lebt in München.

Wie seine Werke immer wieder belegen, versteht sich Alexander Sinowjew als Sowjetmensch, als ein Produkt bolschewistischer Erziehung. Dies sei anhand von Zitaten aus seinem autobiografisch geprägten Roman “Homo sovieticus” erläutert. (Zürich 1984)

Den Sowjetmenschen nennt Sinowjew auch “homosos” (=Menschensauger). Er beschreibt ihn als einen Gewissenlosen: “die Denunziation (ist) die fundamentalste, allseitigste und aufrichtigste Form menschlicher Selbstdarstellung”. (18) „Ich bin ein Vertreter der Masse. Als Individuum habe ich kein Gesicht.” (361) „Pfeife auf die Freundschaft. …je fester die Freundschaft, desto schlimmer der Verrat.” (372)

Die Emanzipation des Bolschewismus erstreckt sich ja nicht nur auf das Gewissen, sondern auch auf die körperliche Symbolik: “Der Kommunismus befreit den Menschen vom Knien - das ist psychologisch gesehen das Wesen der Sache. Selbst wenn wir vor der Obrigkeit knien wollten, würde letztere das einfach nicht zulassen. Wir kriegten dafür dermaßen eins verpaßt, daß wir nicht einmal an so etwas Freiheitliches wie Knien zu denken wagen. Im Kommunismus ist Knien verboten. Im Kommunismus hat der Mensch in Habachtstellung zu stehen… Augen weit auf und untertänigst auf die Obrigkeit gerichtet.” (62)

Der erfahrene Kommunismus treibt selbst einen Dissidenten nicht in den Schoß der orthodoxen Kirche zurück. Ein derartiges Ansinnen führt zu der Frage: “Soll ich die Resultate der größten Revolution der Geschichte und die Errungenschaften der großartigsten Lehre in mich eingesogen haben, um am Ende zu einem Bastard der orthodoxen Kirche zu werden? Alles, nur das nicht!” (61)

Der Kult des Kollektiven macht vor dem Denken nicht halt: “Der Homosos denkt in Gedankenblöcken und fühlt in Gefühlsblöcken, für die (für die Blöcke als Ganzes) es noch keine passenden Bezeichnungen gibt. Dank dieser Tatsache ist er psychologisch und intellektuell plastisch, biegsam, adaptiv. Eine an sich böse Tat wird vom Homosos nicht als böse empfunden, da er sie nicht an sich, sondern nur als Element eines vielschichtigeren Ganzen (Blockes) empfindet, das als Ganzes nicht böse erscheint.” (100)

Der Sowjetmensch hat keine Überzeugungen - diesen Luxus kann sich nur der westliche Intellektuelle leisten. Er hat dagegen einen ausgesprochenen Realitätssinn. An anderer Stelle spricht Sinowjew vom “schlichten Realismus” (Wir und der Westen. Zürich 1983, 101). Er bekennt sich zu wirksamen Maßnahmen bei der Verhaltenssteuerung von Menschenmassen: Staatsideologie und Zwangsarbeit, keine “trügerischen und heuchlerischen Mittel der Moral” (Homo s. 101) Von der exorbitanten Hochrüstung der Sowjetunion wird auch einfach als vom Angriffspotential gegenüber dem Westen gesprochen. Das Rüstungsproblem ist aber nicht ganz ohne paradoxe Züge: “Die Stärke des Westens liegt nicht im Verstand und in der Entschlossenheit, sich zu verteidigen, sondern in seiner Dummheit und Bereitschaft zu kapitulieren.” (226)

Stilisierter Lebensdurst eignet sich gut zur Massenverdummung, tatsächlich hat aber echter Lebensdurst nichts mit Todesangst zu tun. (375) Gilt es doch die Wahrheit zu bewähren: “Willst du leben, mach dich auf den Tod gefaßt.” (370) Der Sowjetmensch kennt wenig Illusionen bezüglich der Intellektuellen: “Sie sind den Praktikern des Lebens nur im Phrasendreschen überlegen. Würden die Führungsposten der Gesellschaft mit Intellektuellen besetzt, würde es viel schlechter werden, da ihnen das Gefühl für die Realität und der gesunde Menschenverstand abgehen.” (341) Auch wird das Verhältnis von Mensch und Maschine im Osten besser durchschaut: Die westlichen Menschen „sind überzeugt, daß im Wettstreit zwischen Mensch und Maschine die Zukunft der Maschine gehört. Sie kennen die Homosossen nicht. Wir sind nämlich überzeugt, daß im Wettstreit zwischen Homosos und Maschine die Zukunft den Homosossen gehört.” (310)

Und schließlich leidet der Sowjetmensch keineswegs an Minderwertigkeitskomplexen und ist nicht an nationale Grenzen gebunden: “Der Homosos ist keine Verfallserscheinung. Im Gegenteil, er ist das höchste Produkt der Zivilisation. Er ist ein Übermensch. Er ist universal. Wenn nötig, ist er zu jeder Niedertracht fähig. Wenn möglich, ist er zu jeder Tugend fähig. Es gibt keine Geheimnisse, für die er keine Erklärung fände. …Er baut auf das Schlechte. Er ist Nichts, das heißt Alles. Er ist ein Gott, der Teufel spielt. Er ist ein Teufel, der Gott spielt. Er ist in jedem Mensch.” (368)

Aus dem Zitierten könnte der Eindruck gewonnen werden, Sinowjew sähe im Kommunismus etwas Gutes - sein Exil bliebe dann völlig unverständlich. Dem ist aber nicht so, nicht jeder Aspekt des Kommunismus wird von ihm positiv gewertet. Die Beziehungen zu den Mitmenschen z.B. gar nicht. Er schreibt dazu in “Kommunismus als Realität” (Zürich 1981): “Das Fehlen jeglicher Kultur im Umgang miteinander wird hier zum Prinzip erhoben… Vielleicht ist dieses ‘Einander-in-den-Dreck-ziehen’ eine der fürchterlichsten Erscheinungen des Kommunismus. Der Grundsatz ‘Die Interessen des Kollektivs stehen über den Interessen des Individuums’ erscheint in seiner praktischen Verwirklichung als das Bestreben, alle in völlig unbedeutende Wesen zu verwandeln, die nur Spott und Verachtung verdienen. Nur keine Persönlichkeiten!” (201)

Hiermit wird eine gemeinsame Voraussetzung für ein Gespräch zwischen Anderem und Christ sichtbar: Würde der Person. Eine weitere liegt darin, was man in Anlehnung an Buber als Realgesinnung bezeichnen kann, die eng mit dem Streben nach Wahrhaftigkeit verknüpft ist. Christen sollten darauf verzichten, „die ungeheure Wirklichkeit der Hölle durch den Glauben an die Güte des Menschen oder den Fortschritt zu überzuckern.” (Rosenstock: Heilkraft 50) Sie haben Liebe zu leben, ohne Hoffnung und Glauben zu leugnen, und die Geduld des Inkognitos aufzubringen. Diese Vorleistungen könnten zur Freundschaft führen, zur „geistigen Liebe” auch beim Anderen (s. Florens Christian Rang: Shakespeare der Christ. Heidelberg 1954). Das wäre kein spannungsloses Verhältnis nach Rang: “.. immer drängt die Freundschaft Kampf und Auseinandersetzung als Aufgabe den Freunden auf.” (146)

Bruder/Schwester, Anderer, Freund und Teufel/Verräter - in einem Zeitalter, in dem es um die Verwirklichung einer wahrhaft menschlichen Gesellschaft geht, gewinnen diese Gestalten unserer mitmenschlichen Begegnungen und unseres eigenen Lebens große Bedeutung. Es lohnt sich sicherlich, ihnen nachzuspüren - insbesondere in unseren Beziehungen zu Menschen aus dem Osten.

Schließen möchte ich mit den zwei letzten Versen aus dem Gedicht ,Das Wort” von Nikolaj Gumiljew, dessen 100. Geburtstag und 65. Todestag in dieses Jahr (1986) fallen. Das Gedicht aus seinem Todesjahr 1921 hat sechs Verse, deren Thematik in dem Verhältnis von dem Wort zu den Wörtern gipfelt. Das Macht-Wort Gottes - „das Wort in glüh’nden Wolkenringen”- wird in den ersten Versen der „Zahl” gegenübergestellt, die „im Labyrinth aus Integralen” „dem Sinn die Ziele sucht”:

Doch wir vergaßen, daß sternenweisend
In der Erdenwirrnis nur das Wort,
Und Johannes sagt uns, gläubig preisend,
Daß der Logos Gottes tiefster Hort.

In Natur gebannt kann’s keiner lesen,
Wir verstellten ihm sein Reich - das All;
Bienengleich, die faul im Korb verwesen,
Duftet übel toter Worte Schwall. (übersetzt von Heinrich Stammler)

Exkurs: Das Dreieck als Grundstruktur menschlicher Lebensordnung

Zu den Bedingungen menschlichen Lebens auf Erden gehören Schöpfung und Sündenfall. Mit dem Sündenfall können wir heute offenbar wenig anfangen. Die Sünde ist zu etwas Fremdem geworden. Als Sündenböcke werden Institutionen, Gruppen und Andere ausgemacht. So berechtigt manche Feststellungen in dieser Richtung sein mögen (Ehrenberg selbst hat auch auf die Verlagerung des Sündigens via Institutionen hingewiesen), so erinnert er uns doch in seiner Anthropologie „Vom Menschen - biblisch und aktuell” (Gladbeck 1948) eindringlich daran, daß wir Menschen durch den Sündenfall in einer - von uns aus gesehen - ausweglosen Lage sind; keine Münchhausen-Praktik hilft uns da. Gegen diese Feststellung wird mancher den Einwand erheben, daß unsere Situation heute kaum durch ein so lange zurückliegendes Ereignis bestimmt sein könnte. Ein Ernstnehmen des „Falles” kann vor folgenden Haltungen schützen: Utopik, Idealismus, Romantik, Objektivismus. Und wer will behaupten, daß diese Überzeugungen keine Relevanz mehr hätten?

Ehrenberg lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Situation „Ausreise aus dem Paradies”, in der sich „Gott-ohne-Mensch und Mensch-ohne-Gott” begegnen.(34) Diese eröffne die Chance eines menschlichen Beginnen und kennzeichne noch unsere Lage heute. Auch ermögliche sie den Blick nach rückwärts und vorwärts. Der Blick nach rückwärts zeige eine „zentral”, aber nicht „total” getroffene Kreatur. Das ursprüngliche Gute im Menschen ist nicht völlig verschwunden, kann aber allein nicht mehr die Zerstörung verhindern: das Böse sitzt im Herzen und macht den Menschen von Gott um seines eigenen Heiles willen abhängig.

„Das fundamentale Wort Gottes .. bei der Ausreise des Menschen aus dem Paradies ist das Wort ‘Feindschaft’.. Es beraubt die Schöpfung ihrer Einheit. …die Welt (wird) niemals wieder ohne Riß sein, ehe sie ganz erlöst ist. Die Feindschaft ist die ‘grundsätzliche Spannung’, in der - mehr oder weniger, aber immer irgendwie - alles in dieser Welt zueinander steht. Der Begriff der Spannung stammt aus Gottes Weltordnung nach dem Sündenfall. Er enthält ein Nein und ein Ja. Er setzt Welt und Mensch zwischen Segen und Fluch’. Ja, das Wort ‘Feindschaft’ ordnet und setzt einen ersten und entscheidenden Widerstand wider das einbrechende Chaos. Das für gewöhnlich nur als ‘Fluch’ bezeichnete erste Diktum Gottes ist Gottes erste Aktion wider das Böse und dessen Sieg.”(37)

Gott stellt uns in ein Leben voller Spannungen. Seine Taten entsprechen keineswegs menschlichen Wünschen. Er handelt nicht als „Drachentöter”. Er mutet uns im Gegenteil zu, unsere Zerrissenheit als Heil anzunehmen.

Genesis 3 kennt vier Handelnde: die Schlange, Eva und Adam sowie Gott. Die Schlange repräsentiert das Böse - den gegen Gott gerichteten Willen - und steht zugleich für die gesamte Tierwelt bis hin zu den Bakterien. Die Feindschaft ist schon von Anfang an nicht einfach dual strukturiert, sondern dreifach gegliedert: zwischen Tier und Mensch, Weib und Leben, Mann und Natur.

Immer wieder versucht der Mensch, die Risse zwischen Tod und Leben, zwischen ihm und der Natur zu schließen. Die Ismen-Denker versprechen Unerfüllbares.

„Mit dem tatsächlichen Sündenfall, so erklärt Gott in seinem Diktum, werden die Risse unheilbar. Mensch und Tier, Weib und Leben, Mann und Natur stehen in Todfeindschaft. Bibel und Erfahrung stimmen darin überein, daß das Leben, einst und heute, primär auf Kampf steht, Kampf aller gegen alle, permanenter Kampf zwischen Leben und Tod, zwischen Chaos und Ordnung. In der Tat, der ordnende Geist Gottes schwebt für immer über einem Abgrund. Der Sündenfall löst die Spannungen aus, die aber den Rahmen des planmäßigen Aufbaus der Schöpfung nicht zersprengen; da Gott den Menschen nicht vergewaltigt, auch nicht zu seinem Besten, sondern liebt - liebt bis ans Ende -, So verhindert Gott nicht den Ausbruch des Risses, noch läßt er selbst sich für ihn verantwortlich machen.” (38 f) „Gott wird in die Not versetzt, das zu lieben, was aller Liebe ins Gesicht schlägt..” (39)

„Gottes Friedenswille setzt bei seinem Kriegsedikt ein. Gott ist beides, Pazifist und Militarist; aber jenes zu sein, ist sein Wille, dieses seine Not. Der Mensch, der Gott nicht nachahmen kann, beuge sich unter Gottes Kriegsedikt, das göttliche Wort von der Feindschaft, den ‘Fluch’ über den Menschen und das Tier, den Mann und das Weib; aber er höre es als das göttliche Friedensedikt. Der Mensch hat keinerlei Vollmacht empfangen, den Krieg als einen Zuchtmeister zu loben, noch ein ‘nie wieder Krieg!’ zu proklamieren. Kampf und Krieg sind Gottes Strafe, aber Gottes Strafe, Satzung des göttlichen, über dem Chaos schwebenden Geistes; Gottes Aufnehmen der in die letzte Tiefe der Verlorenheit absinkenden Welt. Eine Verzweiflungstat Gottes, so wagen wir sie zu nennen. Der erste Anfang der Wende. Mündend daher in die erste Gnadenverheißung, die das Ende des Tieres zusagt…”(39)

Dreieck_1 Ehrenberg sieht in der Dreiecksstruktur einen „Schlüssel für Erkenntnis und Praxis”. Das Dreieck, das er zunächst anspricht, hat die „Ecken”: Gott, Mensch, Tier. Ersetzt man das Tier=Schlange durch Satan - wie das Ehrenberg auch tut -, so läßt sich die Beziehungsstruktur als eine im bestimmten Sinne personale ansprechen (Rosenstock verneint die Person-Qualität des Teufels, dafür gibt es auch gute Gründe).

Eine wichtige Funktion des Dreiecks ist nach Ehrenberg die Aufgabe zu simpler Vorstellungen über die Kampfsituationen. Entsprechend den Dreiecks-Personen sind Fronten mit wechselnden Koalitionen möglich: Tier und Mensch wider Gott, Tier gegen Mensch und Gott, Tier und Gott gegen Mensch.(40) Die letzte Front ist die Hiobsituation. Die erste Frontbildung - insbes. als Rebellion des Geschöpfes gegen den Schöpfer - ist durch den Bolschewismus gegeben, die zweite durch den Nationalsozialismus - Rebellion des Tieres gegen den Menschen -, der ja in seiner praktischen Konsequenz antihuman war. Gemeinsam ist der roten wie der braunen Rebellion letztlich der Angriff gegen Gott.

Dreieck_2 Sorgfältig ist Ehrenberg dem Charakter des „Tieres” nachgegangen und ist bei dieser Ecke auf etwas gestoßen, was nicht unwichtig ist: „Nebel” und „wechselnde Namen”. Es läge „etwas wie eine Rauchwolke vor ihm”. (41) Damit könnte das Dreieck wie nebenstehend gezeichnet werden. Hier wird also auf die außerordentliche Wandlungsfähigkeit im Rollenwechsel des Bösen hingewiesen, die jedes Anti-Teufelsprogramm in Welt, Dämon, Geschichte Frage stellt. Rosenstock zitiert William Ralph Inge: „Geschichte zeigt uns, daß die Mächte des Bösen ihre größten Triumphe dadurch gewonnen haben, daß sie jene Organisationen eroberten, die zu ihrer Bekämpfung gegründet waren; und wenn der Teufel den Inhalt der Flaschen geändert hat, ändert er niemals das Etikett.” (Soz. II, 316)

Das Dreieck führt zu der höchst unbequemen Feststellung. „Die Ordnung der Welt ist unlogisch. Denn die Ordnung der Welt baut auf die Perversität des Sündenfalls und legitimiert sie, um sie zu überwinden. Vergessen wir die Paradoxie dieses Tatbestandes, so wird uns die göttliche Ordnung … zur ‘natürlichen’ Noch ein Schritt … (zur) Teufelsordnung.”(41 f)

„Ohne das offenbare Gotteswort ist der Mensch seinem gestaltlosen Optimismus oder Pessimismus ausgeliefert. Gottes Offenbarung heißt uns verstehen lernen, daß dort, wo Gott ist, beides waltet, Gutes und Böses, Segen und Unheil.” (44)

Eine praxisbezogene Zwischenbemerkung: Ordnungssysteme, die Gott und Satan negieren, gehen ja konsequent von der prinzipiellen Machbarkeit der Lebensgestaltung durch den Menschen aus. Treten dann im Planvollzug Schwierigkeiten auf, so ist das „Sabotage”, die nur durch „Saboteure” verursacht sein kann. Kein Wunder, daß deren Bestrafung nur als inhuman bezeichnet werden kann. (S. etwa Jürgen Boeckh: Mit der Bibel hinter Stacheldraht. Freiburg 1981, 78)

Dreieck_3 Sehr viel ausführlicher hat Ehrenberg 1932 in „Deutschland im Schmelzofen” mit Dreiecken versucht, die damalige politische Situation aufzuhellen. Sein darin verwendetes Grunddreieck unterscheidet sich von dem 1948er nicht unerheblich: der Mensch besetzt keine Ecke mehr, sondern steht in der „Mitte” zwischen Gott, Welt und Satan. Er nennt es „Dreieck der deutschen Kampflage”, Die Welt ist hier als eigenständiges Element berücksichtigt, nicht nur als eine Erscheinungsform des Satans. Der Teufel selbst ist von seinen Verkleidungen befreit. Der Mensch die Begegnungsstätte antagonistischer Kräfte.

Gemeinsam ist dem Dreieck von ‘32 mit dem von ‘48 die obere Ecke „Gott” und die linke untere „Satan= Tier”; letzterer darf nach Ehrenberg auf keinen Fall in einer „theologisch-politischen” Betrachtung fehlen.

Dreieck_4 Das politische Kräftefeld sieht Anfang der 30er Jahre wie folgt aus: drei Kräfte gehen von Gott aus: Judentum, katholische Kirche und Protestantismus. Zwei Gegenkräfte treten gemäß dem „Gesetz des Rückstoßes” auf: die marxistische und die faschistische Bewegung. Die katholische Kirche hat durch das Blut der Märtyrer den Satan besiegt und seine Ecke in Richtung Welt passiert. Auf der Horizontalen erreicht sie einen toten Punkt (Vatikan), weil sie ihren Sieg überschätzt hat und sich selbst verweltlicht. Der Vatikan-Punkt ist sozusagen der Ausgangspunkt für die marxistische Gegenbewegung, die sich mit dem Satan verbündet und Gott angreift. Ihr erstes Angriffsobjekt ist die - teilweise verweltlichte - Kirche.

Auf der rechten Dreiecksseite stellt Ehrenberg der linken entsprechende Vorgänge dar: Das Judentum geht von Gott aus in Richtung Welt, passiert als innerweltliche Bewegung, die sich gläubig in der Welt gegen die Welt behauptet, die Welt-Ecke. Doch beim Vorgehen gegen die Satansecke erreicht sie ihren toten Punkt in Golgatha. Dieser Endpunkt ist der Startpunkt des Faschismus, der mit Hilfe der Welt sich dann ebenfalls gegen Gott und Christus wendet. Ehrenberg sah 1932 im Protestantismus den spezifischen Gegner des Faschismus wie im Katholizismus den des Bolschewismus. So wird s.E. deutlich, daß selbst im Fluch der Kirchenspaltung ein Segen stecke, denn der Doppelangriff auf Gott sei andernfalls nicht abwehrbar. (96)

Frei bleibt eine Mittelstrecke auf der Horizontalen zwischen den Punkten Vatikan und Golgatha, die Ehrenberg als graphischen Ort des Antichristen, der Wiederkehr Christi und des Weltgerichts deutet. Damit ist die Horizontale voll als Strecke von Antagonismen gekennzeichnet. Zudem macht Ehrenberg einsichtig, daß durch die Einführung des Kreuzes in das „Dreieck der Wirklichkeit” (104) - dessen Spiegelung es bewirkt - es möglich ist, den Davidstern sichtbar zu machen. Dadurch demonstriert er seine feste Überzeugung, daß die Juden zur Ökumene gehören.

„So ist Rom die einzige Reichsgottesbewegung, die über den Satan triumphiert, Israel die einzige, die es im Tun von Gott her auf die Welt hin erreicht, die Ecke der Welt zu durchlaufen, der Protestantismus die einzige, die beide Richtungen der Reichsgottesbewegung vereinigt, in beiden Hälften des göttlichen Dreiecks beheimatet und tätig ist. Alle zusammen stellen das Ganze der Reichsgottesbewegung dar.” (100)

Ohne Zweifel basieren die Ehrenbergschen Dreiecke auf denen des Rosenzweigschen „Sterns”. Letztere seien deshalb angeführt: Dreieck_5 Die Unterschiede lassen sich auf die voneinander abweichenden Intentionen zurückführen: bei Ehrenberg sind es „theologisch-politische”, bei Rosenzweig können sie als theologisch-philosophische bezeichnet werden. Das „Dreieck der Wirklichkeit” Ehrenbergs läßt sich auch nicht ohne weiteres mit dem „Kreuz der Wirklichkeit” Rosenstocks in Verbindung setzen. Dies verhindert die Differenz, die Rosenstock als die zwischen „Gottdrei” und „Weltvier” bestimmt hat. (S. Geheimnis 129 ff) Das „Dreieck” als eine Ausformung der „Gottdrei” gehört in den weiten Rahmen der Trinitätslehre. Für eine Gesellschaftslehre ist beim „Dreieck” der Bezug nicht irdisch-wirklich genug. Das macht es aber keineswegs irrelevant für eine Soziologie! Denn geistige Orientierung - auch eine „materialistische” ist nichts anderes - ist unausweichlich eine Orientierung am, „Himmel”. (S. Rosenstock: Soz. II 674 ff)

Wir sollten auf Ehrenberg hören: „Mögen die Entscheidungen des Herzens einfach sein, die Entscheidungen der Weltereignisse sind es nie. Als Christen stehen wir deshalb ‘weder links noch rechts’, sondern auf der ‘extremen Mitte’.”

  1. Vgl. Roman Rössler: Zur Wiederentdeckung Pavel Florenskijs in der Russischen Kirche. in: Unser ganzes Leben Christus umserm Gott überantworten. Studien zur ostkirchlichen Spiritualität. Hrsg. v. Peter Hauptmann. Göttingen 1902, 446 11 

  2. Später hat Bulgakow als Gefährlichstes am Kommunismus dessen „fanatischen Atheismus” bezeichnet (siehe S. 97).