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Hans Ehrenberg: Östliches Christentum, Bd.2

VI. NACHWORT1

DIE RUSSIFIZIERUNG EUROPAS ODER DIE FRAGE DER TRINITÄT

  1. Die russischen Religionsphilosophen.
  2. Die babylonische Gefangenschaft der Universität.
  3. Die Scheinorthodoxie in der evangelischen Kirche.
  4. Das trinitarische Denken

Die Weisheit von oben aber ist erstens rein, sodann friedfertig, gütig; sie lässt sich etwas sagen, ist voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch und frei von Heuchelei.

Jac. 3,17

I

Kirejewski schrieb im Jahre 1830 über Schleiermacher, daß Schleiermacher mit dem Herzen glaube und mit dem Verstande zu glauben trachte (s. I, 343). Spengler glaubt mit dem Kopfe, und sein Trachten ist, mit dem Herzen nicht zu glauben. Spengler lebt ohne Glaubensgemeinschaft in einer Denkart, deren Früchte, besonders in den großen systematischen Bezirken seines zweiten Bandes, von Christus Zeugnis ablegen; unser Herz empfindet ihn als Heiden, unsere Vernunft muß ihn als Christen beurteilen. Unserer Zeit, auch den Christen unserer Zeit, erscheint er als Heide, und er ist es auch nach dem Trachten seines Herzens, aber er ist es nur mit dem Herzen und dort, wo der Kopf sich der Stimme des Herzens unterwirft. So ist Spengler bei der Betrachtung der altchristlichen Epoche zu dem eigenartigen und denkwürdigen Begriff der Pseudomorphose gelangt, mit dem sich dieser Christ wider Willen die ihm fatale und ärgerliche Tatsache erklären will, daß das in seinem Ursprung orientalische Christentum in seiner Auswirkung und Geschichte die Macht des Okzidents wurde. Er nennt diesen Vorgang eine „Pseudomorphose”. Sein christlicher Verstand bemerkt das Einzigartige des Ereignisses, aber sein Herz erlaubt ihm nicht zu verstehen, daß es sich hier im zeitlichen Gewand um das ewige Ereignis der sichtbaren Fleischwerdung der unsichtbaren Wahrheit handelt. Das Wort Pseudomorphose ist ein Verlegenheitsausdruck für das Scheitern der historischen Methode vor der Tatsache des Kreuzes. Und das Herz, das trachtet nicht zu glauben, setzt der gläubigen Vernunft als der untergeordneten Kraft eine Grenze, die sie nicht zu überschreiten vermag.

Es ist nicht unnatürlich, daß die menschliche Vernunft dem Herzen nicht zu folgen vermag; und der Geist hat mit größeren Schwierigkeiten zu kämpfen als die Seele und erreicht nie die mystische Geschwindigkeit eines liebenden Herzens. Aber, es ist nicht natürlich, daß das Herz kälter ist als das Gehirn und der Geist mit seinen Erkenntnissen einen Liebesbund schließt, den das Herz noch ablehnt. Daher ist Spengler nicht paradox, sondern widersinnig, er ist in seiner Geistigkeit ein Antipode des natürlichen Menschen, trotz durchaus unbedingter Genialität. Der Genius vermag eine verfinsterte Seele nicht zu erleuchten und ein verstecktes Herz nicht zu bekehren.

Der Übergang des Christentums aus dem verschlossenen Heiligtum, das nicht von dieser Welt ist, in die Weltbreite, Kultur und Staat - Spengler spricht zuerst von der magischen Höhle und sodann von der Pseudomorphose - wiederholt sich in der Gegenwart zwischen dem engeren Europa, genannt Abendland, dessen Untergang zu konstatieren für Spengler nicht schwierig ist, und Osteuropa. Osteuropa bildete bis nahe an unsere Gegenwart heran die „Höhle”, in der der Schatz der Seele vor den Augen der Welt, vor den Blicken des Abendlandes verborgen ruhte. Das Abendland selber, wenngleich christlich, spielte die Rolle, die ihm durch die Erbschaft der griechisch-römischen Antike zugewiesen wurde. Infolgedessen und insoweit geht es zugrunde. Und gleichwohl! - jetzt kommt es zur Wiederholung der Pseudomorphose - findet die Fortsetzung der Geschichte auf abendländischem Boden statt, wiederum kraft eines Einbruches der Offenbarung in die Bereiche der Diesseitigkeit. Für den, der mit dem Herzen glaubt und mit Erfolg mit dem Verstande zu glauben trachtet, bedeutet dieser Vorgang keine Verlegenheit, er erscheint ihm durchaus in einer höheren Weise als natürlich: denn schlechthin jedes Verhältnis der Offenbarung zur menschlichen Kultur muß sich in scheinbare Formen einer Pseudomorphose kleiden. Spengler sucht sich mit dem Kunstterminus Pseudomorphose einzureden, daß es sich um eine Ausnahme handelt; für den Historisten stellt der Fall allerdings eine Ausnahme dar, aber das Historistische ist selber eine wenn auch generelle Ausnahme. Stets verhält sich - gleichnishaft gesprochen — die Seele, die christliche keineswegs weniger als die natürliche, weiblich gegen den männlichen Geist. Die weibliche Seele Rußlands erliegt dem männlichen Geiste Europas, das nach Rettung durch die Seele verlangt, und die Russen lieben Europa wie Frauen ihre Männer, d.h. als ihren Herrn, und wissen doch, daß ihre eigene Seele durch diese Liebe gefährdet werden kann. Wir denken an Iwan Karamasows Wort vom Friedhof Europa, den er lieben müsse.

Die Europäisierung Rußlands war eine unvermeidliche Sache, die Russifizierung Europas ist ein wunderbares Ereignis! Natürlich verstanden, siegt Europa; übernatürlich verstanden, siegt Rußland, d. h. nicht Rußland, sondern Christus. Infolge der modernen Pseudomorphose wird Rußland europäisch, Europa christlich. Europa bleibt - aber eine schlechthin neue Epoche seiner Geschichte beginnt.

Missionarische Vorgänge verlieren, sobald sie sich ausgewirkt haben, ihre Ursprungszeichen; man wird in Europa nach einiger Zeit nicht mehr von „russischen Einflüssen” sprechen, dagegen auf dem dem Historisten allein bekannten Gebiete des Geisteslebens, zu dem die Mission nicht gehört, verschwinden die Ursprungszeichen nie gänzlich, weil alles Geistige nicht so demütig wie das Seelische und daher stolz auf seine Herkunft ist: der Mangel der Liebeskraft macht sich bei allem Geistigen in der Selbstsucht bemerkbar, mit der der Geist, wo er nur Geist ist, mangels der Liebeskraft, an der Konstatierung von Einflüssen festhält. Der Historismus ist die Wahrheit des vom Herzen, von der Liebe, von der Seele schlechthin getrennten Denkens; er ist „nur Haupt”, wie der Pietismus die Wahrheit eines geköpften Herzens, „nur Gemüt”.

In den Dokumenten der russischen Religionsphilosophen von heute haben wir einzelne Werke der modernen Pseudomorphose. Vor dem Zusammenstoße mit Europa war das östliche Denken erstarrt, aber in ihm war die platonische Leidenschaft zum Geiste latent in der Sprache der östlich altchristlichen Dogmatik, und diese Leidenschaft wurde durch das Begegnen mit dem Abendlande aufs neue geweckt. Jedoch ist der Ausgangspunkt dieses erneuten Denkens in Osteuropa ein ganz anderer als der des modern abendländischen Denkens. Die Philosophie des Abendlandes hatte sich nach den zunächst unentschiedenen Kämpfen der scholastischen Zeit ganz im Ich festgesetzt und konnte deshalb das Christentum kaum dem Inhalt nach, geschweige in der Denkart bewahren. Das östliche Denken ist vorscholastisch und wurzelt daher auf eine unbedingte Weise im Wir. Dem abendländischen Individualismus und Persönlichkeitsfaktum steht die urchristliche Pfingstlichkeit der im Heiligen Geiste geeinten Kirche gegenüber. Das abendländische Denken fällt immer in seinen psychologischen Ursprung zurück, kein Transzendentalist vermag es davor zu retten. Das morgenländische christliche Denken strömt aus pneumatologischer Quelle. Chomjakows Abhandlung über die „Einheit der Kirche” steht nicht willkürlich am Kopf des zweiten Bandes unserer Dokumente, und die Schriftstellergeneration des ersten Bandes, dessen Dokumente trotz ihrer Einfachheit dem Abendländer nicht so nahe rücken wie die soviel komplizierteren des zweiten Bandes, geht nicht zufälligerweise der Schriftstellergeneration des zweiten Bandes voraus. Wir Abendländer denken als Philosophen, als Ich-hafte Persönlichkeiten, die Russen denken als Glieder der Kirche. Der Gegensatz ist nicht, wie der Abendländer sich einredet, der von vorurteilslosem und vorurteilsbehaftetem Denken, sondern von Ich-haftem und Wir-haftem.

Es sind zwei Denkarten, jede in ihrer Weise gleichermaßen vorurteilslos wie vorurteilshaft, vorurteilslos für den, der drinnen, vorurteilshaft für den, der draußen steht. Der persönlichkeitshafte Denker ist für den kirchlichen Denker ebenso vorurteilsbehaftet wie der kirchliche Denker für den persönlichkeitshaften.

Der östliche Denker des Christentums ist aber nicht derselbe wie der römisch-katholische. Der römisch-katholische steht zwischen Persönlichkeit und Kirche, da er schon Persönlichkeit ist, kraft der abendländischen Kultur, geteilt zwischen den zwei Wahrheiten der Scholastiker, der Wahrheit des Herzens und der Wahrheit des Kopfes. Der christliche Denker des Ostens, der erst durch Europa auf den Weg zur Persönlichkeit geführt wird, kennt nur Eine Wahrheit, und das persönlichkeitshafte Denken, wenn es nun bei dem europäisierten Russen in großer Stärke auftritt, bildet sich nur jeweils als ein einzelner Zweig an dem Einen gemeinsamen Stamme des kirchlichen Denkens aus. So ist die Kirche die gemeinsame Denkgrundlage für alle christlichen Denker des Osten. Das Wechselverhältnis der selbständigen Denkerpersönlichkeit mit der kirchlichen Institution ist abendländisch, die Geburt des persönlichen Denkers aus der Seele und dem inneren Sein der Kirche ist östlich, ist altchristlich, urchristlich.

„Und das Weib” (die Kirche) „entfloh in die Wüste, da hat sie einen Ort, bereitet von Gott, daß sie daselbst ernährt würde” (Ap. Joh. 12,6). Rußland war für die Kirche dieser Ort in der Wüste, wo sie in der Verbannung, beschützt von Gott, lebte. Die Zeit des Exils ist aber jetzt zu Ende, die Kirche kehrt in ihre Heimat zurück, die Russen selber führen sie heim: Die Russifizierung Europas!

Das kirchliche oder pneumatologische Denken wird im Abendlande die Überlieferung des persönlichkeithaften Denkens kaum je ganz beseitigen können. Darin liegt aber auch gar nicht unser Ziel. Unser Kampf geht um die Freiheitsrechte unseres christlichen Denkens; für alles Weitere, für die Wechselschicksale des Kampfes und seinen Ausgang hat nicht der Mensch zu sorgen; aber um unsere Freiheit, um unser Lebensrecht kämpfen wir und werden wir kämpfen. Und diesen Kampf werden wir siegreich beenden, obwohl wir ihn ohne die ernsthafte Hilfe von Seiten der abendländischen Kirchen des Katholizismus und des Protestantismus führen müssen, zum Teil sogar gegen den Widerstand der protestantischen und katholischen Kleriker.

Der gemeinsame Boden zwischen den russischen Religionsphilosophen und uns liegt in dem Wirklichkeitsprinzip der geistlichen Kirche (Eph. 4, 5). Die Kirche ist weder der zweite Christus (nach katholischer Ansicht) noch ein unsichtbares Ideal (nach altprotestantischer Lehre) noch ein bloßes Zweckwerkzeug oder Mittel Christi (nach modern-protestantischer Anschauung), sondern der höchstwirkliche sichtbare Leib Christi, von dem nur das Haupt nie irdisch sichtbar wird, denn der erhöhte Christus wohnt im Himmel. Die Leibhaftigkeit der Kirche, die Gliedhaftigkeit der Persönlichkeit ist der gemeinsame Glaubensartikel für Russen und uns, der die Existenz des Heiligen Geistes wirklich ernsthaft bejaht. Und diese Existenz bewährt sich in der ständigen Erneuerung der lebenskräftigen Einheit zwischen den durch alle irdischen Mächte immer wieder auseinandergerissenen: Haupt, Leib und Glieder.

Diese gemeinsame Denkgrundlage ist so übermächtig, daß neben ihr die Unterschiedlichkeiten verschwinden, von denen wir gleichwohl nun auch sprechen müssen. Da ist das erste, daß die gesamte Geschichte der Philosophie, da sie die Denkgeschichte des Abendlandes ist, nicht zu der eigenen Tradition der östlichen Christen gehört. Der Russe hat daher nicht an der philosophistischen Krankheit gelitten und steht den eigenen spekulativen Fähigkeiten und ihrer Ausübung viel unkritischer, unbedenklicher und naiver gegenüber, als wir es noch dürfen und vermögen. Da der Russe keine Philosophie „alter Art” hatte, so hat er auch keine „neue Art”, obwohl seine Philosophie innerhalb der abendländischen Philosophiegeschichte zu der Philosophie der neuen Art zählt; nur ist ihre Auseinandersetzung mit der dem Russen fremden abendländischen Philosophie alter Art eine ganz andere als unsere eigene Auseinandersetzung damit. Die Polemik der Russen ist im Vergleich: zu der unseren einerseits viel freier und überlegener, andererseits weniger endgültig und weniger umfassend. Da aber ergänzen wir uns auf ganz vortreffliche Weise. Wundervoll ist dann die denkerische Produktivität dieser östlichen Philosophen neuer Art, die nach einer überstandenen Krankheit entstehenden Wiedergeburtskräfte gehen ihnen allerdings ab. Es liegt etwas überaus Erquickliches und Zukunftserschließendes in der Denkart der Russen, aber sie nehmen es mit der einfachen Rückkehr zur Ontotogie zu leicht und gehen an der letzten Vertiefung des Wirklichkeitsbegriffes, dieses Salzkorns für die Philosophie neuer Art, vorüber; die durch Kierkegaard hindurchgehende Linie der Denkgeschichte ward von ihnen bis jetzt noch nicht oder fast noch nicht mit einbezogen, dafür besitzen sie die bei ihnen nie gestörte Einheit von Philosophie und Theologie. In Sachen der geistigen Sünde weniger versuchbar als wir, sind sie ihr gegenüber weniger vorsichtig und weniger genau und geraten daher hier und da in gnostische Extratouren. Immer aber ist das Denken bei ihnen von der liebesstarken Sicherheit des Glaubens getragen und mündet in die Kraft des Zeugnisses. Ihr Erkennen ist dem Bekennen Untertan, weder gibt es philosophische Disziplinen noch „die zwei Wahrheiten” noch einen abgesonderten philosophischen Wissenschaftsbezirk. Daher verlaufen selbst die gnostischen Abirrungen ohne allzu schwerwiegende Folgeerscheinungen, und gegen manche Gedanken, die uns entweder ganz zurückwerfen oder vollständig zerstören würden, sind die Russen fast immun.

Es wird von Gott einem Menschen oder einem Volke nie alles gegeben, um unserer geschöpflichen Demut willen. So ist den Russen zwar die Gnade zuteil geworden, ohne jeden Riß der Philosophie und der Theologie zu dienen; ihr Denken ist gläubig, ihr Glauben denkkräftig; das ist das, was die Protestanten nicht einmal mehr wünschen, die Katholiken sich wünschen, aber nicht erreichen; auch besitzen die Russen die volle Überlieferung der altchristlichen Denkart; sie stehen ohne Zwischenglieder auf den Schultern der alten Väter und sind daher im Besitze des trinitarischen Denkens, ohne es apologetisch als Epigonen zu mißbrauchen. Gleichwohl blieb ihnen versagt, in den innersten Einheitspunkt zwischen Philosophie und Theologie zu treffen, vielleicht gerade, weil sie die Erfahrung der Trennung beider nicht durchgelebt haben. Und so verwenden sie eine gnostische Vermittlungsidee, die „Sophia”, einen künstlichen Begriff, anstatt des natürlichen Vermittlungsbegriffes des Wortes, der Sprache.2 Denn die Sprache war sowohl Mittler der Schöpfung wie der Offenbarung als auch der Erlösung und wird es für alle drei auch immer bleiben, und wo die Sprachlehre fehlt, mangelt auch die in Gottes „Namen” sichtbare Einheit des Dreieinigen Gottes, und es müssen an Stelle des Gottesnamens wieder die alten abstrakten Philosophiebegriffe eintreten (Wesen, Substanz), die eine lebendige, biblische Umschmelzung (nicht Veränderung) des Dogmas verhindern. Daher ist z.B. bei Florenskij die engere Trinitätslehre das schwächste Stück, während Ansätze bei allen unseren russischen Denkern vorhanden sind, die sehr deutlich auf die Sprachlehre (Pronomina bei Florenski, Anthropozentrik bei Berdjajew, Schöpfungsphilosophie bei Bulgakow) hinweisen. Um so vollkommener haben die Russen sämtliche andere Punkte um den einen ihnen gnostisch noch halb verschleierten Mittelpunkt herum schußsicher getroffen und sind vor allem in den gesamten Fragen der Pneumatologie, wozu außer der Lehre von der Kirche die Lehren vom Dogma, von der Askese, von der Sünde, von der Heiligkeit, vom Wissen und von der Liebe zählen, von einer hinreißenden Glut, einer gestaltungskräftigen Klarheit, einer schöpferischen Tiefgründigkeit und einem umfassenden Reichtum — gesegnete Denker, denen wir in erdrückender Armut gegenüberstehen.

II

Bei uns hält man auch unter Christen den Gedanken der heiligen Dreieinigkeit für eine spekulative Erfindung. Für nichtspekulativ gelten dem Zeitgeist dagegen die Philosopheme über das „religiöse Apriori”. Das Wort spekulativ bedeutet in dieser polemischen, ablehnenden Bedeutung soviel wie: nicht erfahren, nicht erlebt. Und es unterliegt keinerlei Zweifel, daß die Heilige Dreifaltigkeit auf dem Boden der Universitätswissenschaft wirklich unerlebbar und unerfahrbar ist; da ist sie „nur” Idee, „nur” Spekulation. Ebenso unterliegt es aber auch keinerlei Zweifel, daß auf dem Boden des kirchlichen Denkens die Gedanken der Kantianer oder Hegelianer ohne Ausnahme „nur” Idee, „nur” Spekulation sind. Wir haben die beiden Denkarten bereits konfrontiert. Um der Denkfreiheit unseres kirchlichen Denkens willen, die uns verwehrt wird, haben wir jetzt den Angriff, der der Verteidigung dient, nicht zu scheuen noch zu verzögern. Aus welchem Boden erwächst überhaupt ein Recht zu der Urteilsform: nur Idee, nur Spekulation? Entstanden auf dem Boden der Universität, scheint diese Urteilsform nur auf diesem Boden und also in der Welt der von ihr beherrschten Bildung der Gebildeten ausgesprochen werden zu dürfen. Formal gesehen trifft das zu. Ohne die Universität als kritisches Organ wäre die orthodox geblendete Kirche nie zu dem unerhörten kritischen Wagnis der Urteilsform: nur Idee gelangt. Der Universität ist im christlichen Äon die Aufgabe der kritischen Haltung gegeben, um des Geistes der Wahrheit willen, der uns Einmütigkeit verleihen soll. Denn obwohl die ersten Wirkungen dieser kritischen Haltung trennende sind so muß doch die falsche, teils erzwungene, teils unerprobte Einmütigkeit der Kirche, diese Scheineinmütigkeit, erst verdrängt werden; sonst dringt der Heilige Geist nicht durch, und es erhalten die Glieder am Leibe Christi dann nach ihrer Ein-verleibung nicht jene Beweglichkeit zurück, ohne die der ganze Leib gelähmt ist.

Jedoch, die Universität ist nur so lange der Boden der kritischen Wahrheit, als sie auf dem Boden der Kirche, auf dem Boden des Glaubens steht. Das war im Zeitalter der Reformation noch der Fall. Sobald aber die Universität diesen Boden verläßt und dann dazu übergeht, den Boden der Kritik selber für den Boden des Glaubens zu halten, geht ihre kritische Mission in die Brüche. Das gilt auch von ihren einzelnen Menschen. So wurde z.B. ein Kierkegaard, trotzdem er die kritische Haltung grundsätzlich überspitzte, ein echter und berufener Kritiker der Kirche, während ein Kantianer, der „religiös” ist, vermittlungstheologisch denkt und die Selbständigkeit des religiösen Aprioris vertritt, den Boden des Glaubens, weil er ihn aus seinem kritischen Denken heraus neu gewinnen zu können vermeint, längstens verließ und daher gar nicht mehr zu den christlichen Denkern zählt. Es bedeutet nur einen kleinen Schritt weiter, daß die Universität selbst ihre kritische Haltung nicht mehr ernst nimmt, weil das Glaubensleben sich jeder Beurteilung von außen entzieht, wenn der Standpunkt - außerhalb zum Standpunkt wird, und dann auch in der Kritik relativistisch wird. So kommt die Universität einschließlich der Kritizisten in die babylonische Gefangenschaft.

Sobald die Universität, nach ihrer völligen Trennung von dem Leibe der Kirche, auch ihre eigene kritische Mission nicht mehr ernst nimmt, gerät sie in die babylonische Gefangenschaft. Nur noch innerhalb der evangelisch-theologischen Fakultäten wird der tragische Versuch unternommen, die kritische Haltung und ihren Ernst a tout prix zurückzugewinnen, und die Katholiken sehen sich gezwungen, diesem exklusiv protestantischen Versuch, wenn auch mit einiger Reserve, ihren Beifall nicht zu versagen. Dieser Rettungsversuch der kritischen Haltung und damit der Universität, von dieser selber in ihrem Relativismus höchst unangenehm und beschämend empfunden, führt aber den Geist unserer Epoche auf einen toten Strang. Als Symptom aber ist er von großer Bedeutung und hat, an der Situation der Universität gemessen, durchaus recht. Aber aus dem Zirkel der Ichhaftigkeit kommt der Zeitgeist auf diesem Wege nie heraus, trotz aller Abneigungen gegen den Idealismus.

Das gibt ja dem Katholizismus seinen augenblicklichen und für die lebende Generation auch nicht mehr verschwindenden Auftrieb in Deutschland, daß es sich heute gar nicht mehr um Protestantismus und Katholizismus handelt - dabei hatten die Katholiken immer den Kürzeren gezogen — sondern um Universität und Kirche. Wir werden zwar nicht das Beispiel Justinians nachahmen und die Philosophenschulen schließen, zumal die Katholiken selber das verhindern würden. Aber wir müssen gleichwohl den Kampf zwischen Kirche und Universität nunmehr auf der Seite der Kirche durchfechten, ohne dabei die Erbschaft der Universität, die kritische Haltung, ganz aufzugeben. Von selten der Universität wird man uns zwar diese Gefahr entgegenhalten und damit wie mit einem Popanz alle schrecken wollen; aber die Gefahr ist nicht ernsthaft, weil wir aus unserer alten Linie gar nicht soweit herausspringen können und die Katholiken sogar, nachdem sie sich solange gesträubt haben, im letzten Augenblick - als die Wende sich schon anzeigte und der erste Schein einer neuen Morgenröte sichtbar wurde, unterlagen und nun schnell auch noch ihre Religionshistoriker, -psychologen, -phänomenologen und -vergleicher bekamen. Den Kampf mit der Universität führen daher nicht sie, sondern Evangelische, wie dies schon in dem Sklavenaufstand der geistig Armen gegen die Universität, in der Gemeinschaftsbewegung, sich angezeigt hat. Und wenn die Katholiken jetzt der Universität auch noch zu einem - billigen - Triumph verhelfen, so muß man sich fragen: haben also auch sie nicht mehr die Methoden der wirklichen und offenbaren Wahrheit, obwohl sie doch immer behaupteten, sie zu besitzen? Sind auch sie, wie ja die Russen ihnen vorwerfen, rationalisiert, ja ist das babylonische Exil der Universität nur die Fortsetzung der babylonischen Gefangenschaft der Kirche? Sind die Katholiken selber etwa noch immer, seit 1520, in ihrer babylonischen Gefangenschaft?

Lehre kommt von Gott, durch die Offenbarung. Forschung kommt vom Menschen, durch Erfahrung. Forschung muß sein, aber nicht an Stelle der Lehre. Erfahrung ist stets, aber nicht in Verdrängung der Offenbarung. Die babylonische Gefangenschaft hat die Universität zum Buhlen mit allen Götzen des Zeitalters verführt: Relativismus! Es macht ihr das geistige Huren viel Vergnügen. Die Universität ist die babylonische Hure der Gegenwart. Und ihr aus der Verarmung entstandener Bund mit der industriellen Plutokratie, durch den sie sich an den Mammon verkaufte, hat die durch den Relativismus geschwächte dem Fürsten dieser Welt, an den sie nicht glaubt und über den sie sich erhaben dünkt, preisgegeben. Betteln ist nicht ehrlos, wenn es in der Demut der Armut geschieht; aber die Universität will im Stolze betteln, sie will den Mammon belohnen!

Es gibt keinen einzigen Volks- oder Zeitgeist mit dem sie nicht schon gebuhlt hätte - meint sie nicht, daß die Unzucht sie unfruchtbar macht und ihr lebensfähige Kinder nicht mehr geschenkt werden? Überall aber, im Geistigen wie im Natürlichen, wird der Segen der Frucht als das Kennzeichen beurteilt, an dem die Würde und das Existenzrecht gemessen werden. So wendet sich der bessere Teil des Volkes mehr und mehr von der Universität ab und diese Tatsache wird sie mit der Zeit zur Buße zwingen - wenn sie dann nur nicht noch zur Betschwester, nämlich „religiös” wird!

Menschlich geredet, kann man diese Darlegung als eine Übertreibung bezeichnen, an der nur der sogenannte „Kern” wahr wäre. Aber nicht auf das menschliche Sprechen kommt es hier an. Nicht von den Menschen der Universität, sondern von der Universität als geistiger Gesamtperson wird geredet. Die Einzelnen können auch einer Dirne mit reinem Herzen und reinen Händen selbstlos dienen.

So wird also der Kampf offen ausbrechen. Das ist nicht zu vermeiden. Und wie Martin Luther gegen Tod und Teufel focht, so werden auch die neuen Kämpfenden sich nicht fürchten; denn „die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen”. Und für die Martyrien dieses Kampfes, dem sich die Universität vergebens durch Schweigen zu entziehen sucht, werden die einsamen Kämpfer dadurch belohnt, daß der Heilige Geist ihre Lebenswege vereinigt.

III

Wie steht es nun um die Kirche? Wenn sie das wahre Kanaan, wo ist dann heute Kanaan? Wenn sie das heilige, priesterliche Volk, wo sind dann Heilige, wo sind dann Priester? Wo ist die Gottesstadt? Wo steht der Tempel des lebendigen Gottes? Wo ist der Boden der Wahrheit, als Standpunkt für unser Leben?

Wir sprechen von der Kirche, die für den Zeitgeist der modernen Welt führend und verantwortlich ist, von der evangelischen Kirche. Wieviel hat sie nicht dem Staate geschenkt und geopfert, wieviel nicht dem geistigen Mittelpunkt des Staates, der Universität! Von beiden wurde sie auf einmal im gleichen Zeitpunkt verlassen, von dem einen, weil ihn, den irdischen, ein irdisches Geschick ereilte - von der anderen, der Universität, weil diese der Kirche die Treue brach, die die Kirche ihr gehalten hatte. Es ist kein Wunder, wenn die meisten Diener der evangelischen Kirche in Deutschland mit Sehnsucht Ausschau halten nach ihrem summus episcopus auf dem irdischen Throne der Gewalt! Es ist ebenfalls kein Wunder, wenn sie das Blutsgeschenk, das ihnen ward, nicht zu würdigen wissen - das Geschenk der Freiheit der Kinder Gottes von den Mächten der Welt! Es ist endlich auch kein Wunder, wenn sie nicht bemerken, wie die auseinandergerissenen und erkrankten Glieder am Leibe des Auferstandenen sich wieder zu regen beginnen und zueinanderstreben. Ja, sie sind wie im Schlafe und sehen Ihn nicht, den wieder unter uns Weilenden. Sie haben verlernt zu glauben, ohne zu sehen, und daher können sie weder glauben noch sehen. Die berufenen Führer der evangelischen Kirche, ihre Theologen, sind fast alle mit in der babylonischen Gefangenschaft. So befindet sich die evangelische Kirche beinahe führerlos im zerstörten Jerusalem. Ohne Lehrer ist sie auch ohne Lehre und muß doch versuchen, sich eine Lehre zu bilden, oder wenigstens einen Teil der Überlieferung zu erhalten. Und das ist auch geschehen. Aber es ist wiederum kein Wunder, wenn diese Lehre der Zurückgebliebenen, des Bestes in Kanaan, obgleich orthodox, eine halbe, ketzerische und fruchtlose Lehre und ihre Orthodoxie eine Scheinorthodoxie wurde. Wir zählen ihre Ketzereien auf:

  1. Zertrümmerung des Trinitätsglaubens und damit der gesamten Tradition der christlichen Glaubenslehre einschließlich der Reformationsdogmatik. Orthodoxe Theologie nur des zweiten Glaubensartikels: Gott abstrakt, Christus lebendig. Daher Verdrängung der Schöpfung durch den Sündenfall, dieser wird zum Anfang der Welt; infolgedessen ein unfreiwillig komischer und erfolgloser Kampf gegen die naturwissenschaftliche Weltanschauung. Die Selbständigkeit des dritten Glaubensartikels geht verloren, der heilige Geist, der nur in der Einen heiligen Gesamtkirche weht, wird individualisiert und so in Atome zerschlagen: Pietistische Wendung!

  2. Infolge des verdrängten Schöpfungsglaubens wachsende Unsicherheit in den Lehren von der Geburt des Sohnes und der leiblichen Auferstehung der Toten. Aus dem gleichen Grunde Versagen im Alltag, besonders in der sozialen Frage.

  3. Spiritualistische Entwirklichung der Glaubensgedanken, mit Ausnahme des Kreuzes. Infolgedessen Neigung zur monophysitischen Christologie, oft bis zum Doketismus hin. Also übersteigerter Paulinismus, kein Jesus nach dem Fleische (Joh. 1,1-4). Teilrecht des Liberalismus durch Bekämpfung des Doketismus.

  4. Dauernde Vermischungen des zweiten und des dritten Glaubensartikels; Mißverständnis der reformatorischen Rechtferligungslehre3 im Sinne einer Heiligungsbewegung allein durch den Glauben; nur katholische, nicht evangelische Heiligung, und Opferung der eschatologischen Gerichtsspannung zugunsten einer heilssicheren Heilsgewißheit.

  5. Entweder gar keine, oder eine entartete Eschatologie.

  6. Entweder gar keine, oder eine entartete Satanologie.

  7. Den „christologischen Unitarismus”, der dem Sakrament keine ernsthafte Bedeutung mehr gewährt, würde Luther verdammen und Calvin verbrennen. Verkürzung der Bibel.

  8. Früchte des Glaubens und des Geistes entweder in der Ekklesiola oder in Sonderformen (Innere Mission), nicht in der Kirche als solcher. Daher dauernde Spaltungen, Parteiungen, Sektierereien.

  9. Magische Entartung der orthodoxen Predigtsprache in der starren, formelhaften Wiederkehr einzelner GlaubensWorte, etwa „in Christo sein” oder „mit Christo leben und sterben”, ferner Benennung Gottes nur als „der Vater”, Christi nur als „der Heiland”. Die Namensmannigfaltigkeit Gottes und Jesu bleibt unbenutzt oder wird gedankenlos verwendet. Durch diese Sprachverfälschung kann der Liberalismus sich jederzeit ein orthodoxes Gewand anziehen. Und wiederum: Verkürzung der Schrift!

  10. Subjektivismus und unkeusche Überschätzung des privaten Glaubenslebens und der innerlichen Bekehrung zweites Gebot! Gefahr eines neutestamentlichen Pharisäertums und Bedrohung der evangelischen Freiheit. Der Erlösungsglaube kippt erneut in Weltflucht um.

  11. Der Dienst der anbetenden Gemeinde verkümmert. Das Gebet nur noch Bitte, nicht Anbetung. Zunehmende Sakra- mentsfremdheit. Kultisch - liturgische Restaurationsversuche dilettantischer Gruppen, unter schwankender Zurückhaltung der Kirche, sind selber Auswüchse des Individualismus.

  12. Die Missionspredigt blieb. Wir stehen wieder am Anfang des Christentums. — Karl Barths bisherige Theologie hatte Johannes den Täufer zum einzigen Heiligen und war daher „zwischen den Testamenten” (zwischen den Zeiten) verankert; Barths Römerbrief interpretierte den Apostel überwiegend im Sinne eines „Johannes Jüngers”. Und die anderen Positiven von heute befinden sich zwischen Ostern und Pfingsten, zum Teil vor, zum Teil nach Himmelfahrt, im Zustand der zerstreuten und verstummten und doch mit dem Gekreuzigten und Auferstandenen innerlich unlösbar verbundenen Jünger vor dem ersten Pfingsten, sind daher ohne Kirche, ohne Selbständigkeit der dritten trinitarischen Person, des Heiligen Geistes. Im Gegensatz des unitarischen bezw. unklar binitarischen Christentums unserer Tage mit dem trinitarischen geht es um den Heiligen Geist, seine personale Selbständigkeit, die von der typischen Scheinorthodoxie verleugnet wird, und diese bleibt daher im Zustand der vorpfingstlichen Jünger, die noch nicht Apostel sind, sondern individuelle Christuserleber, die, wenn sie vom Heiligen Geist sprechen, ihn auch individualistisch, also unheilig bestimmen.

Jesus Christus selber aber hat seine Jünger nicht im Zweifel darüber gelassen, daß sie, wenn der Bräutigam von ihnen genommen sein wird, eines neuen Wunders, der Ankunft des Trösters, der pfingstlichen Ausgießung, bedürfen. Christus allein ist nicht das Christentum, nicht die Christenheit. Seine Jünger von heute aber wollen klüger sein als ihr Herr und Meister. Ohne die volle Wirklichkeit der Kirche des Heiligen Geistes weilt der in die Herrlichkeit Gottes erhöhte Herr nicht unter seinen Brüdern auf Erden. - Die Missionspredigt blieb. Wir stehen wieder am Anfang des Christentums.

Gleichwohl fehlt es dieser Orthodoxie keineswegs an den guten menschlichen Eigenschaften der Rechtgläubigkeit, als da sind: Eifer, wissenschaftliches Bemühen, Opfer, Liebe, Glaube, Ringen um die Verkündigung, selbst Demut; aber es fehlt die geistliche Kraft. Auch wäre ohne die Scheinorthodoxie der letzten Generation die in vollständiger Dürre der babylonischen Knechtschaft befindliche Universitätskirche ganz in den Reihen der modernen Götzendiener aufgegangen.

Aus der evangelischen Kirche allein kommen wir ebensowenig wie aus einer der anderen Kirchen zur wirklichen Lehre, in der Kraft und dem Geiste, und zur lebendigen Sprachkraft zurück, sondern nur in der Gesamtkirche, in der jede Einzelkirche zu einer Auferstehung im Heiligen Geiste gelangen soll. Die modernen russischen Denker sind die ersten Zeugen der Gesamtkirche in der Wirkung auf die einzelnen Kirchen. Die östliche Kirche war die älteste, sie ist auch heute wieder die erste. Die evangelische Kirche aber ist heute nicht ungläubiger als die anderen Kirchen, jedoch ist sie unheiliger; dafür bleibt ihr auch in Zukunft die Berufung, die letzte Kirche zu sein, und von ihr, von ihrem unheiligsten Zweig, dem amerikanischen Volke, geht daher der neue Sammelruf zur Einheit von Hirte und Herde aus. Aus dieser ökumenischen Wendung, die nicht nach organisatorischen Begriffen gewertet und verstanden werden will, wächst ein neuorthodoxes Denken auf, orthodoxer als die seit je vermittlungstheologisch angehauchte Theologie des Papsttums und orthodoxer als die scheinorthodoxe Theologie des Protestantismus. Erste Bausteine zu dem Bau der neuen Orthodoxie tragen wir in diesem Bande zusammen; dem dienen auch die Betrachtungen des Nachworts.

IV

Es gibt verschiedene Voraussetzungen für die „Möglichkeit einer Christlichen Lehre”; dieselben seien zuerst genannt:

  1. Die Lehre hat zwei Grundlagen: die Schrift und Jesus Christus. Jene ist in ihrer ganzen Breite, der Breite der Offenbarungswahrheiten - dieser in seiner ganzen Starke, der Stärke der Heilstatsachen, Grund der Lehre.

  2. Vom Schöpfungstage an bis zum Jüngsten Tage bezeugt sich Gott seiner Erde. Von Abraham und Moses an bis zum letzten Wort am Kreuz wirkt Gottes Wort direkt. Von Noah und den Urvätern an bis zum ersten Pfingsten stiftet Gott Kirche.

  3. Der Alte Bund ist der Bund der Anbetung, der Neue Bund ist der Bund der Erlösung. Deshalb ist der Alte Bund unitarisch, der Neue trinitarisch. Der Alte Bund beruht auf dem Namen Gottes, der Neue auf der Fleischwerdung des Wortes. Beide zusammen bilden das Ganze der Offenbarung.

  4. Als Offenbarung gesehen, folgen Alter und Neuer Bund aufeinander, gehören zueinander, bilden miteinander „Das Buch”. Als Erlösung gesehen, geht der Alte Bund im Neuen Bund auf. Deshalb stehen „im Buch” beide Bünde neben- einander, als Teile ein und desselben Buches. Im Kommen des Reiches aber stehen sie ineinander, und zwar nach dem Worte der Schrift (Rom. 11, 17ff.) so, daß der Alte Bund die Wurzel, der Neue Bund den Stamm mit Blüte und Frucht bildet. Derart also wird der Alte Bund im Neuen erfüllt, indem er als dessen Wurzel erhalten bleibt.

  5. Um christlich denken zu können, und also für die „Möglichkeit einer christlichen Lehre”, ist daher zweierlei von nöten:

    a. Das biblische Denken, das sich in vollständiger, gehorsamer Hingabe an das Buch der Bücher gibt, daher kein Einzelwort herauslöst, keine Einzelstation verabsolutiert, keine Spaltung innerhalb der Offenbarung erlaubt, vielmehr überall, in jedem Einzelwort im Ganzen der Schrift steht, und gleichwohl jedes Einzelwort als „Spruch”, als ein in sich Ganzes zu behandeln, zu deuten und auszuwerten versteht — jenes, die Hingabe an die ganze Schrift im „Lesen”, dieses, die liebevolle Ausschöpfung des Einzelsatzes im „Sprechen”. Der Alte Bund lehrte das „Lesen”, der Neue das „Sprechen”. Das Gesetz will gelesen, das Evangelium verkündigt sein. Und wieder wird jenes zur Wurzel von diesem, wenn auch beide da sind, jedes für sich.

    b. Die Umschmelzung des Wortes im Kreuz, die Fleischwerdung, Transsubstantiation in der Kraft. Deshalb steht das Reich Gottes nicht (nämlich nicht mehr) im Wort, sondern in der Kraft. Die Kraft, das Leben in der Kraft, die Heiligung, ist die Frucht der „Erfüllung in Christo”. Die Nachfolge des Kreuzes ist die zweite Voraussetzung für die „Möglichkeit einer christlichen Lehre”.

Den Voraussetzungen für die Möglichkeit einer christlichen Lehre lassen wir zunächst die formalen Bestimmungen für ihre Ausführung folgen:

  1. Biblische Theologie und Dogmatik (oder Systematik) sind dieselbe Wissenschaft, dieselbe theologische Disziplin, genannt die „Lehre”. Als Hilfswissenschaften gibt es die Geschichte des Alten und des Neuen Bundes sowie die Geschichte der Kirche. Als eigene Disziplin gibt es nur noch die Praktische Theologie, die mit der „Lehre” in engstem Zusammenhang, Daueraustausch, Wechselwirkung und Durchkreuzung steht, im Leben der Gemeinde.
  2. Die Person, von welcher die Lehre kommt, ist die Kirche, und zwar nicht etwa eine innerhalb der Kirche noch einmal isolierte „lehrende Kirche” (siehe Chomjakow in 1, 170). Die Kirche ist nicht eine selbständige Größe neben dem Buch oder neben Christus; ersteres ist bei den Katholiken, letzteres bei den Protestanten der Fall. Sondern, sie ist die stets erneuerungsbedürftige Wirklichkeit der Kraft, also die lebendige Einheit der beiden vorgenannten Voraussetzungen der Lehre: der Offenbarung in der Schrift und der Erlösung in Jesus Christus. Die Kirche ist der Heilige Geist in irdischer Präsenz, hervorgegangen aus Gott, der die Schrift und Christus in der Kirche vereinigt, hindurchgegangen durch Christus, in dem ihr die stets sich zu erneuernde Inkarnation zuteil wird: a patre, per filium (nicht filioque).
  3. Die Lehre ist auch künftig in zwei verschiedenen Darstellungsweisen aussprechbar, entweder folgend der Bibel, von der Schöpfung bis zur Wiederkehr Christi, oder als System, aber dann als System der Kirche, also als Kirchenjahr (der ständig sich erneuernde Ring der Inkarnation).

Indem wir uns soeben, unter 3, bereits im Dogma befanden, stehen wir in den materiellen Bestimmungen für die Ausführung der Christlichen Lehre; die wichtigsten derselben, für jede der beiden Darstellungsarten gültig, sind:

  1. Die Kirche ist der Lehrer des Dogmas. Daher ist sie die erste Person der Lehre. Diese muß mit ihr selber beginnen, weil die Person des Lehrers nicht außerhalb der Lehre stehen kann; so wird die Lehre von der Kirche zum Prolegomenon der Lehre überhaupt. Damit ist gesagt, daß das Dogma mit der Lehre vom Heiligen Geiste einsetzt, resp. in ihr seinen Grund hat. Deshalb ist es, daß Paulus I. Kor. 12, 4—6 die Trinität in scheinbar rückwärtiger Reihenfolge entwickelt: Geist, Sohn, Vater. Und die letzte Gestalt, der Vater, ist auch die Erste: A und 0, die Einheit der Drei. I.Kor. 12, 4-6 ist die biblische Keimzelle der Trinitäts-, d. h. der Christlichen Lehre.
  2. In der einen, der Bibel in Schöpfung, Offenbarung, Erlösung folgenden Darstellungsweise, ist die Lehre selber die am Ende reifende Frucht der Darstellung, die in erzählender Weise von der Schöpfung an den Faden der Gottesgeschichte bis zu dem Punkt, wo die Lehre kraft der Ausgießung des Geistes da ist, abrollt. In der anderen, der systematischen Darstellungsweise wird die Lehre aus ihrer allzeitlichen Existenz entfaltet, ohne jede Art von Hinleitung. Aber in jeder der beiden Darstellungsweisen muß die jeweils nicht verwendete mitenthalten sein.
  3. Daher keine Darstellung der Lehre ohne die gottesgeschichtlichen Grundbegriffe Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, in denen Anfang, Höhe und Abschluß des biblischen Weges genannt sind. Und keine Darstellung der Lehre ohne die Existenzbegriffe der Kirche: Haupt, Leib und Glieder (siehe oben). Diese beiden je drei Worte sind die gesamten Grundbegriffe der Lehre.
  4. Die Vereinigung der drei Stationen Schöpfung, Offenbarung, Erlösung mit den drei organischen Worten Haupt, Leib und Glieder ist die Trinitätslehre. Diese ist daher einerseits eine Lehre von den Stationen des göttlichen Waltens (sog. ökonomische Trinitätslehre), andererseits eine Lehre von der allzeitlichen Existenz Gottes auf Erden, d.h. eine Lehre vom Reich.
  5. Die Trinitätslehre ist keine Lehre vom Gottesbegriff. Denn es gibt im Angesichte Gottes keinen Begriff Gottes. Da gibt es nur den Namen Gottes. Und dieser kann nicht gelehrt, sondern nur „genannt”, nur angebetet werden. Jede Lehre vom Gottesbegriff entwurzelt die christliche Lehre, läßt also die Wurzel des Stammes, Israel, absterben und gibt dem Stamm eine künstliche Wurzel in der Philosophie.
  6. Die alte Trinitätslehre ist teilweise auf die richtige Weise, teilweise als Auseinandersetzung mit der griechischen Philosophie, und daher auf eine heidnische Weise entstanden. Die Einsprengung dieser heidnischen Teile ist auszumerzen, insonderheit muß allerorten an Stelle des Gottesbegriffes der Gottesname eintreten. Der Name ist unitarisch, der Name ist trinitarisch. Unitarisch ist er als Name der Anbetung, trinitarisch (im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes oder im Namen des Dreieinigen Gottes) ist er der Name des Bekenntnisses. Die Anbetung steht im Dienst der Offenbarung, das Bekenntnis steht im Wirken der Erlösung. Die philosophischen Begriffe: Wesen, Substanz können höchstens eine untergeordnete Rolle spielen.
  7. Indem sowohl „Gott” wie der „Dreieinige Gott” Name ist, ist die Einheit der Drei = Eins und der Eins = Drei gewahrt — nur durch den Namen.
  8. Jede Person der Drei ist allerdings gleichen Wesens, nicht aber gleichen Namens. Christus ist nicht Gott, der Heilige Geist ist nicht Gott, sondern beide sind göttlich, gott-gleich, Deus a Deo.4 Aber Gott leidet und stirbt nicht, und Gott wird nicht ausgegossen über alles Fleisch; patripassianische und montanistische-enthusiastische Häresien sind auszuscheiden. Nur die erste Person der Trinität ist auch Gott selber, der Vater ist Gott selber, weil in ihm die unlösbare Verbindung der Eins mit der Drei vollzogen wird; denn er ist allein ungeworden, der Sohn aber erzeugt als die Menschwerdung göttlichen Wesens, und der Geist ausgegangen, als die Verleiblichung göttlichen Wesens.
  9. Die drei trinitarischen Personen stehen je in einem besonderen Verhältnis zu einem der drei christlichen Kirchenfeste: der Heilige Geist zu Pfingsten, der Sohn zu Ostern, der Vater aber zu Weihnachten; letzteres ist so zu verstehen, daß im Kinde Jesus die Vaterschaft verkündigt wird, die den Weg zum Sohn und zum Geist eröffnet. Da nun das Christentum - im Unterschied zum Judentum - kein Fest allein des Gottesnamens haben kann noch haben soll, so muß vielmehr jedes Teilfest der Trinität, Weihnachten, Ostern, Pfingsten, durch den Einen Namen - „Gott” - in der Einheit des Ganzen dargestellt werden. Und das Wort muß zum Sakrament werden: der eigentliche, der echte, tiefste, selten verstandene Sinn der Reformation, des evangelischen Christentums; nur im Wort kehrt der Gottesdienst zu Gott zurück.
  10. Jede der drei trinitarischen Personen ist „Person”; in jeder ist Gottes Wesen, und Gottes „Wesen” ist, Person zu sein.
  11. Daher muß jede trinitarische Person in einer verschiedenen Personalität stehen: der Vater ist das schöpferische Ich, der schafft, zeugt und ausgehen läßt, das Ich des Wortes, das Ich der Schöpfung, der Erlösung, der Heiligung. „Ich, das ist mein Name,” sagt Er. Indem Er redet, wird die Schöpfung geschaffen; indem Er redet, wird die Offenbarung gegeben; indem Er, der allein die Stunde weiß, das Stichwort des Endes spricht, nämlich richtet, wird die Erlösung vollendet. Nicht so der Sohn. Jesus Christus ist überall in der Du-Person: Du bist mein lieber Sohn. Christus sagt „Ich” nur im prophetischen Sinne, etwa in der Bergpredigt denn in jeder Person ist auch die andere Person mit enthalten, im Du das Ich, im Ich das Du — aber seine Grundfunktion ist die Duheit: was ihr dem geringsten eurer Brüder getan habt, das habt ihr mir getan. Die Funktion des Du ist die Funktion der Liebe des Nächsten. Jesus ist der Erste vieler Brüder. Jeder soll, wie Luther sagt, für den anderen ein Christus sein. Er ist unser Lebemeister. Der Heilige Geist aber ist existent nur im Leibe, im mystischen Körper, im Wir. Kein vereinzeltes wirloses Ich, kein vereinzeltes wirloses Du trägt in sich den Heiligen Geist. Nulla salus extra ecclesiam, extra Unam Sanctam. Nur als Glied des Wir ist der Einzelne begeistet. Das oben gekennzeichnete persönlichkeitshafte Denken der modernen Zeit will den Geist als Ich und im Ich, wenn auch in einem überindividuellen Ich, erfassen und ist daher ein antitrinitarisches, ein nichtchristliches Denken. Ich - Du - Wir! Die Einheit des Gottesnamens aber, die Einheit der Trinität ist im ER gegeben. ER, das ist Gott als Gott!
  12. Gemessen am Zustand der heutzutage noch vorhandenen Lehre, dieses Lehrrestes, muß man, am besten auf die drei katechetischen Glaubensartikel bezogen, drei Forderungen für die Einarbeitung in das dogmatische, d. h. trinitarische Denken aufstellen

    a. Die Konservierung des zweiten Glaubensartikels; in ihm, in der Lehre vom Kreuz, liegt unser „orthodoxes” Lehrelement: Vergebung durch das Blut des Lamms.

    b. Die Restaurierung des ersten Glaubensartikels; in ihm, in der Lehre von der Schöpfung, liegt die Verankerung der Lehre in der Wirklichkeit des geschöpflichen Lebens selbst; unser christliches Denken soll, zum Unterschied von der mehr oder weniger unnatürlichen, philosophisch-abstrakten Denkart der früheren Dogmatik ein „natürliches”, ein stets unmittelbar „sprechendes” Denken sein. Losgelöst vom Schöpfungsglauben wird das „Bekenntnis” zur „Theorie”. Nur das Geschöpf „betet an”.

    c. Die Eschatologisierung des dritten Glaubensartikels; in ihm, auf dessen Grund ja „wir” allein christlich denken und lehren, Dogmatik treiben und Lehre vermitteln können (s. oben), sollen wir in der Lehre vom kommenden Tag und seinem Inhalt selber Gliedstücke in diesem Kommen sein; unser Denken soll also nicht im alten Sinne dogmatistisch festlegend, sondern immer wieder wie am ersten Tage unseres Bekennens eben ein Bekennen, ein Stück christlichen Lebens, ein Teil der Nachfolge sein; hier haben wir die überorthodoxe „Bestimmung” der Lehre, des Dogmas. Die Frucht der Lehre ist nicht mehr Lehre, sondern Leben.

  13. Daher, und das ist unser abschließendes Wort, bedarf die Lehre selber der „Erfüllung”. Noch sehen wir durch einen Spiegel in einem dunklen Wort, noch nicht von Angesicht zu Angesicht. Nur im zweiten Glaubensartikel, in Christo, besitzen wir das was wir bewahren können; das ist der Grund, warum er konservierbar ist, warum beim Zerbrechen des christlichen Denkens, beim Verlust der Trinitätslehre, Christus in unserer Lehre blieb und er daher stets in der Mission der Heiden Anfang der christlichen Lehre ist. Die gesamte Lehre ist unfertig, bis auch sie am Ende der Zeiten erfüllt wird. Am meisten muß sich das gerade bei dem ihrer Teile zeigen, der für den Gang bis zum Ende hin im speziellen verantwortlich ist, bei der Lehre vom Heiligen Geist, obwohl die ganze Lehre auf eben ihm ruht. Die Kirchenväter waren daher in diesem Abschnitt der Lehre am unsichersten und unklarsten, auch am kürzesten, und behandelten ihn vielfach nach der christologischen Idee als Schema. Ebenso, sind wir auch weiter (siehe die Russen), so straucheln auch wir am leichtesten bei ihm. Wer begriffen hat, daß der Grund der Lehre, die Lehre vom Heiligen Geist, obwohl auf ihm die gesamte Lehre ruht, unsicher, unfertig und teils verhüllt ist und nur durch die jeweilige Existenz der Kirche bezeugt wird, der hat unseren Ausgangssatz vollständig erfaßt, der uns lehrt, daß die Kirche und nicht ein Lehrer je und je der Lehrer ist. Dies erste Stück der Lehre vom Heiligen Geist können wir seit der Stiftung der Kirche schon ganz erfassen. So ist die Kirche wirklich der Mittler der Lehre. Schließlich, der erste Glaubensartikel ist schon ohne unser Zutun fertig, die Schöpfung, die Natur, das Leben lehren ihn ständig. Deshalb versäumen die Menschen, ihn im Glauben mit ihrem Geiste zu ergründen und zu erfassen, und begnügen sich meistens mit kurzen Hinweisen, bis sie, durch die Zerstörung des Schöpfungsglaubens aufgerüttelt, endlich auf die furchtbare Lücke hingewiesen werden. An diesem Punkte bekommt die immer wenn auch nur auf heidnische Weise der Schöpfung zugewandte Philosophie und Wissenschaft ihr Amt im Rahmen der christlichen Lehre.
  14. Die altchristliche Christologie hatte nicht den Beruf, die ganze Glaubenslehre zu begründen. Die neuchristliche Christologie, nach Zertrümmerung der Trinität, ward überlastet. Wir entlasten sie wieder. Und auch in ihr werden gewisse Neuerungen eingreifen und den Diophysitismus, zu dem wir uns mit dem alten Dogma der Kirche bekennen, eschatologisieren. Die vollkommene und problemlose Person- und Willenseinheit zwischen Gott und Mensch in Jesus Christus ist die des Wiederkehrenden, während der, welcher lebte, litt und starb, sie nur annähernd erreichte, denn durch das eschatologische Nichtwissen des Sohnes - die Stunde weiß nur der Vater - wurde mit Problemen (Gethsemane) und wenigstens scheinbaren Irrtümern (eschatologischen Anzeigen) eine wenigstens teilweise, wenn auch noch so geringe Spannung zwischen Vater und Sohn hervorgerufen. Es ist eine bei der Geburt Christi noch nicht vorhandene, in seinem Leben entstehende, nach seinem Kreuzestode seit der Auferstehung wieder verschwindende Spannung. Wo nun in der Dogmatik an Stelle des Dreieinigen Gottes Christus allein genannt wurde, kam man folgerichtig in der Christologie zu einer überwiegenden oder gar ausschließlichen Lehre vom erhöhten Herrn, verlor damit die diophysitische Sicherheit und kam in die größere oder geringere Nähe des Monophysitismus (die monophysitischen Neigungen des späteren Protestantismus werden von Berdjajew mit leichter Übertreibung, aber doch grundsätzlich richtig beleuchtet). Ist aber Christus die Gottheit in der Du-Person, so enthält er für die Lehre gerade einen neuen Begriff vom Menschen, eine neue Anthropologie (nach Abstrich der leichten patripassianischen Abirrungen Berdajews erkläre ich mich mit diesem grundsätzlich fast ganz in Übereinstimmung). Niemand hat das Christentum begriffen, der die in der Anbetung für immer gültige Scheidung von Mensch und Gott auf die Sphäre des Bekennens überträgt, nachdem sogar schon im Alten Bund durch den Messianismus nicht nur der Erlöser, sondern auch der „Mensch” verheißen war. Die Zukunftsfrage der Christologie liegt in der gewaltigen Aufgabe, nachdem die Gottheit Christi dogmatisch begründet ist, nunmehr seine Menschheit voll und ganz zu erschließen und damit den des Diophysitismus an den Ort seiner Bestimmung zu führen.
  15. Der Trinitätsgedanke hat immer als Sinnbild der Vollkommenheit gedient. Schon das Heidentum hat ihn gesucht. Und in allen menschlichen Vollkommenheiten und Erfüllungen bietet er sich als Gleichnis dar. Wahrheit und Gleichnis decken sich in ihm. So ist er, der Gottesgedanke, auch der Weltgedanke und ebenso der Menschgedanke. So bezeichnet er das Erfüllungs- und Vollkommenheitsmaß aller Dinge. In dieser vollendeten Allseitigkeit enthüllt sich für uns die Allmenschlichkeit, die spezifische Christlichkeit des Trinitätsgedankens. Sein Maß ist das Maß des wachsenden Reiches. Seine Heimat ist das himmlische Jerusalem. Sein Wirkungsgebiet liegt im Diesseits, in das er die Strahlen des Jenseits schickt. Als der vom Heiligen Geist Empfangene geboren wurde, trat die Heilige Dreieinigkeit zuerst in Erscheinung. Weihnachten ist auch ihr Geburtstag. Ihre Präexistenz lag verhüllt im ewigen bei Gott seienden Worte, in der Präexistenz des Sohnes selber. Der Einbruch des Himmels in das Reich, das von dieser Welt ist, offenbart sie. Die Dreifaltigkeit ist das Geschenk der Erfüllung an die Offenbarung, der Erlösung an die Lehre. Daher ist ihr Gedanke dem Alten Bund notwendig fremd, und es beruht auf einem überchristlichen Mißverständnis, trinitarische Weissagungen im Alten Testamente zu suchen. Erst wenn der Sohn auf Erden erschienen, tritt der Heilige Geist in das Stadium seiner Weissagung ein, welches wir in den Evangelien vor Pfingsten finden; im Alten Bunde fällt die Weissagung des Geistes mit der Weissagung damit daß wir es bekennen, gerade geistig an Gott näher heran, unser Geist wird vertraut mit Gott, er erhält auch das Geschenk des heiligen Verkehrs. Was aus dem anbetenden Verhältnis noch nicht entspringen kann, und auch noch nicht aus dem Bekenntnis zu Christus als Sohn Gottes, das wird uns im heiligenden Wirken des GEISTES, der in der Kirche immer wieder über alles Fleisch ausgegossen wird, und so ist die Erleuchtung, das Schauen, das Letzte. Im Himmel, die Engel und die Scharen der Erlösten, sie schauen. Schauen sie aber, so sind sie im Erkennen. Dieses Erkennen aber ist jenes hüllelose sich Erblicken von Person zu Person, das in dem Einen Schlag des Herzens zwei Herzen vereinigt: die vollendete Liebe. Die vollendete Erkenntnis ist nur als die vollendete Liebe. Nur ein verklärter Leib vermag in der vollendeten Liebe zu stehen, nicht weil unser irdisches Fleisch böse wäre, sondern weil es die Hülle der Seele ist und als Schranke zwischen Liebe und Liebe tritt; auch wir Menschen werden uns erst in einer anderen Welt ganz von Angesicht zu Angesicht erblicken. Der Trinitätsgedanke und seine uns hier und jetzt schon gegebene Wahrheit, vermittelt durch die Wirksamkeit des GEISTES, ist die Weissagung auf diese letzte Erfüllung, die des Geistes, die Schau von Angesicht zu Angesicht. Der Trinitätsgedanke ist das dunkle Wort, in dem wir wie in einem Spiegel das „Wesen” schauen dürfen; er ist das EWIGE GLEICHNIS. Indem der Trinitätslehrer es zuerst ablehnt, über Gottes Wesen oder Begriff zu denken, sich vielmehr im unbedingten Gehorsam dem göttlichen Wirken ergibt und wie ein rechter und genauer Beobachter und Empiriker dieses Wirken wiedergibt, in den ökonomischen Stationen der Schöpfung, Offenbarung, Erlösung, sodann aber dazu übergeht, die allzeitliche göttliche Zuständlichkeit, das Reich auf Erden, darzustellen und zu umfassen, in den drei personalen Hypostasen, der ichhaften (Vater), der duhaften (Sohn), der wirhaften (Geist), und in diesen zwei Gedanken, die in einem untrennbaren Bunde in der Dreieinigkeit miteinander leben, in dem ökonomischen und dem pneumatologischen Gedanken, Gott bekennt, wird sein Geist der Heiligung unterworfen und gerät unvermerkt immer tiefer in Gottes Wesen hinein. Wie er dies dann, überrascht, bemerkt, so entdeckt er sodann, daß jene von ihm zuerst mit Entschiedenheit abgelehnte Aufgabe, an der sich der altkirchliche Dogmatiker meistens ohne jede Vorbereitung versuchte, und die wir gewohnt sind, als die immanente Trinitätslehre zu bezeichnen, ihm jetzt, als jeweilige Erfüllung seines trinitarischen Bekennens und bekenntniskräftigen Denkens, wieder näher kommt und schließlich einen Sinn gewinnt, der dem titanischen Streben der alten Trinitätslehrer gerecht wird und doch das Un- und Übermaß, das sie noch im philosophischen Wahn erstiegen, auf das erlaubte und gebotene Maß zurückschraubt. Der Trinitätslehrer als geisti- ger Träger des Kreuzes gewinnt seiner Lehre jenes stückhafte Erkennen über Gottes eigenes, inneres Wesen, das uns unter der Sonne des Ewigen Lichtes nicht ganz verwehrt wird. Man könnte diesen Schlußpunkt der Trinitätslehre als mystisch bezeichnen, aber nur, weil er eschatologisch-messianisch im höchsten menschlichen Maße ist. Haben wir einmal den letzten Einheitsklang zwischen Messianismus und Mystik, zwischen Eschatologie und δεωρια in uns wiederklingen lassen, dann haben wir den Schlußpunkt der „Lehre” erreicht.

Von der Thora an, in der Gottes heilige Existenz offenbart wird - der unaussprechbare Grundakkord der ganzen Offenbarung - bis zu der johanneischen Christologie, die bis in das Geheimnis Gottes, in sein inneres Wesen eindringt, geht Gottes Spur als Offenbarung, als Hingabe an Seine Kinder, durch die Zeit, in die Welt hinein. In Christo hat Gott auch das Allerletzte über sich geoffenbart, hier wird das „Wesen”, das die Philosophen und die neuplatonisierenden, immanenten Trinitätsdenker direkt zu erforschen sich erdreisteten, indirekt offenbar, als Pleroma der Offenbarung, die vor Christus schon abgeschlossen schien, da sie Voraussetzung für sein erlösendes Kommen war, und knüpft so in gewaltiger Verschlingung in dem verbum visibile, in dem ewigen Du Gottes selber, kraft des Allmenschentums des Erlösers, Offenbarung und Erlösung unlösbar ineinander. Jeder Einzelne kann verloren gehen, bis zu allerletzt, aber Gott, der dem Abraham noch aus diesen Steinen Kinder erwecken konnte, kann, nach seinem eigenen Willen, nicht zum zweitenmal den Erlöser kommen lassen, es sei denn zum Gericht über Alle. Nur mit der Person Christi wird der Faden sichtbar, der in Gott vom Inneren, von der Seele, vom Wesen, zu den Taten, zum Wirken läuft, und es wird unter allen den unzählbaren, kleineren und größeren Taten Gottes, unter allen seinen göttlichen Selbstzeugnissen ein einziges ganz wesenhaft mit IHM verknüpft, zwar gleich der Art nach den vorhergegangenen oder folgenden Offenbarungen und Liebesbeweisen, nicht größer in der Liebe, nicht stärker im Offenbaren, ganz und gar nicht (sodaß nur ein ganz heidnisches Denken von einem jüdischen Gott als einem anders gearteten Gott reden kann), aber wesenhafter in der Gott selber bindenden Verbindung. Gott gibt sein Geheimnis in der Menschwerdung preis, er schenkt es den Menschen, die es wieder und wieder mißbrauchen und doch nicht zerstören noch sich von ihm trennen können; denn seit Christus hat sich Gott nicht nur an die Menschen, sondern auch die Menschen an SICH gebunden. Die dritte Person: ER bekommt ihr Reflexiv : SICH ! Wie nach der Sintflut Gott sich ein für allemal zur Welt bekennt, so hat er nach Golgatha sich ein für allemal zum Menschen bekannt. So ER aber das getan, so kann nicht mehr unendlich weit die Zeit sein, da die Schöpfung heimkommt zum Schöpfer und nicht mehr in jener unheimlichen Ungebundenheit ihrem Schöpfer gegenübersteht, wie im Zeitalter des Alten Bundes, bis zum heutigen Tage Israels. Es ist - es war seit Golgatha immer Letzte Zeit, mit all ihren Schrecken und Größen, und all ihren Heiligungen und Verklärungen. „Und wir haben desto fester das prophetische Wort, und ihr tut wohl, daß ihr darauf achtet als auf ein Licht, das da scheinet in einem dunkeln Ort, bis der Tag anbreche und der Morgenstern aufgehe in Euren Herzen.” (2.Petr. 1, 19.)

Hans Ehrenberg

  1. Als Fortsetzung des Nachwortes zu Band 1 zu lesen. 

  2. Für die Sprachlehre als prima philosophia der Offenbarung verweise ich auf den Breslauer Germanisten Eugen Rosenstock, „Angewandte Seelenkunde”, 1924 (enthalten schon in allen seinen früheren Werken), Franz Rosenzweig, „Der Stern der Erlösung”, 1921, und meine „Disputation”, Band I, 1928. Noch punktuell, aus Schöpfung und Erlösung herausgenommen, finden wir die Sprachlehre bei Ferdinand Ebner, „Das Wort und die geistigen Realitäten”, 1922. 

  3. Die Bekenntnisse der Reformation beginnen allerdings mit dem pec- catum originale, aber auf Grund der vorausgesetzten Tnnitätslehre. 

  4. Die dreimalige Wiederholung Gottes für die trinitarischen Personen im Symbolum Quiqunque ist in diesem Sinne zu verstehen.